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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Mensch, der nie existiert hat und der ganz eindeutig jetzt auch nicht existiert, spielt keine Rolle. Hier ist dein wahrer Vater, der dir was zu essen auf den Teller tut und dir Kleider schenkt. Die Füße solltest du ihm küssen und alles tun, was er dir sagt.«
    Dieser zweite Ehemann war Dr. Solanka, Berater am Breach Candy Hospital und in seiner Freizeit ein begabter Komponist, der sich in der Tat als ein großzügiger Mensch erwies. Wie Malik jedoch erkennen mußte, forderte sein Stiefvater mehr von ihm als Füßeküssen. Als Malik sechs Jahre alt war, erfuhr Mrs. Mallika Solanka - die nie mehr empfangen hatte, als habe ihr ungetreuer erster Ehemann das Geheimnis der Fruchtbarkeit mit sich genommen -, daß sie keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte, und das Martyrium des Jungen begann. Zieh ihm Kleider an und laß seine Haare wachsen, und er wird genauso unsere Tochter sein wie unser Sohn. Aber nein, mein lieber Ehemann, das geht doch nicht, ich meine, ist das okay? Aber ja! Warum denn nicht? Zu Hause, in unseren vier Wänden, wird alles, was der Pater familias befiehlt, von Gott gutgeheißen. Oh, meine schwache Mutter, du hast mir Schleifen und hübsche Kleider gebracht. Und als der Bastard dir erzählt hat, daß deine schwache Gesundheit, dieses ständige asthmatische Keuchen und die Erkältungen, tägliche Spaziergänge erfordere, als er dich auf lange Wanderungen in den Hanging Gardens oder auf dem Mahalaxmi Racecourse schickte, hast du ihn da nicht gefragt, warum er dich nicht begleitete, warum er die Ayah davonschickte und darauf bestand, allein für sein kleines Mädchen zu sorgen? Oh, meine arme, tote Mutter, die ihr einziges Kind verriet! Nachdem es ein ganzes Jahr so gegangen war, hatte Malik endlich seinen ganzen Mut zusammengenommen und die unaussprechliche Frage gestellt. Mummy, warum drückt Doctor Sahib mich immer nach unten? Wieso nach unten, was denn nach unten, was soll dieser Unsinn? Mummy, wenn er da steht und mir die Hand auf den Kopf legt, und mich nach unten drückt, und mich auf die Knie zwingt. Wenn er dann, Mummy, seine Pyjamahose öffnet, wenn er dann, Mummy, sie fallen läßt. Da hatte sie ihn hart und immer wieder geschlagen. Erzähl mir nie wieder diese bösartigen Lügen, oder ich schlage dich, bis du taub und stumm bist. Aus irgendeinem Grund hast du was gegen diesen Mann, welcher der einzige Vater ist, den du jemals gekannt hast. Aus irgendeinem Grund willst du nicht, daß deine Mutter glücklich ist, deswegen erzählst du diese Lügen, glaub ja nicht, daß ich dich nicht kenne, die Bosheit in deinem Herzen; was, glaubst du, ist das für ein Gefühl, wenn alle Mütter sagen, dein Malik, Liebste, hat so viel Phantasie, stell ihm eine Frage, und wer weiß, womit er herauskommt? O ja, ich weiß, was das bedeutet: Es bedeutet, daß du deine faustdicken Lügen in der ganzen Stadt rumerzählst und ich einen bösartigen Lügner zum Kind habe.
    Von da an war er taub und stumm. Von da an sank er, sobald er den Druck auf seinem mit Schleifen geschmückten Kopf spürte, gehorsam auf die Knie, schloß die Augen und öffnete den Mund. Doch lange Monate später änderte sich alles. Eines Tages erhielt Dr. Solanka Besuch von Chandras Vater, Mr. Balasubramanyam Venkataraghavan, dem wichtigen Banker, und die beiden saßen über eine Stunde lang zusammen in einem Zimmer. Die Stimmen wurden lauter, dann senkten sie sich gleich wieder. Mallika wurde gerufen und schnell wieder entlassen. Malik drückte sich am anderen Ende des langen Korridors herum, mit großen Augen, sprachlos, eine Puppe umklammernd. Schließlich kam Mr. Venkat heraus, mit einer Miene wie Donnergrollen, und machte nur halt, um Malik, der für Venkats Besuch ein weißes Hemd und eine kurze Hose trug, zu nehmen und zu umarmen und ihm mit hochrotem, heißem Gesicht zuzuflüstern: »Keine Angst, mein Kleiner. Es wird nie wieder geschehen.« Am selben Nachmittag wurden sämtliche Kleidchen und Schleifchen eingesammelt, um verbrannt zu werden; aber Malik bestand darauf, seine Puppen zu behalten. Dr. Solanka legte nie wieder Hand an ihn. Was Mr. Venkat ihm auch immer angedroht haben mochte, es hatte gewirkt. (Als Balasubramanyam Venkataraghavan seine Familie verließ, um ein sanyasi zu werden, hatte der zehnjährige Malik Solanka furchtbare Angst gehabt, sein Stiefvater werde zu den alten Gewohnheiten zurückkehren. Doch wie es schien, hatte Dr. Solanka seine Lektion gelernt. Malik Solanka jedoch sprach nie wieder ein Wort mit seinem

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