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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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nickte. »Eine Phase der Disziplin«, sagte er. »Wenn wir sagen, der Mond besteht aus Käse, woraus besteht er dann, Schwester?« »Aus Käse«, antwortete Neela im selben leisen Ton. »Und wenn wir dir sagen, die Welt ist eine Scheibe? Welche Form hat sie dann?« »Sie ist eine Scheibe, Commander.« »Und wenn wir morgen erklären, daß sich die Sonne um die Erde dreht?« »Dann ist es die Sonne, Commander, die sich dreht.« Babur nickte zufrieden. »Sehr gut! Das ist die Botschaft, die die Welt begreifen muß«, sagte er. »In Filbistan ist ein Führer erstanden, und dem muß jeder folgen oder die Konsequenzen tragen. Ach, übrigens, Professor, Sie haben an der University of Cambridge in England doch Ideengeschichte gelehrt, nicht wahr? Also seien Sie doch so gut und klären Sie uns über ein Rätsel auf: Was ist besser - geliebt oder gefürchtet zu werden?« Solanka antwortete nicht. »Kommen Sie, Professor«, drängte ihn Babur. »Strengen Sie sich an! Sie können’s doch!« Die FRM-Kader, die den Commander Akasz begleiteten, fingerten vielsagend an ihren Uzis herum. Mit ausdrucksloser Stimme zitierte Solanka Machiavelli. » Den Menschen fällt es weniger schwer, jemandem Schaden zuzufügen, der von ihnen geliebt wird, als jemandem, der von ihnen gefürchtet wird. « Dann begann er lebhafter zu sprechen und sah dabei Neela Mahendra an. »Weil die Liebe von einer Kette von Verpflichtungen zusammengehalten wird, die, da die Menschen ein trauriger Haufen sind, bei jeder Gelegenheit, da ihr Eigeninteresse auf dem Spiel steht, durchbrochen wird; aber die Furcht wird von einer Angst vor Bestrafung zusammengehalten, die uns niemals verlassen wird.« Baburs Miene hellte sich auf. »Kein faules Ei«, rief er und versetzte Solanka einen Schlag auf den Rücken. »Sie sind also doch nicht ganz nutzlos! So, so. Wir werden über Ihren Vorschlag nachdenken. Gut, gut. Bleiben Sie noch ein wenig. Bei uns residieren bereits der Präsident und Mr. Bolgolam. Auch Sie werden Zeuge dieser ersten strahlenden Stunden unseres geliebten Filbistans werden, in dem die Sonne nicht untergeht. Bitte, bestätigen Sie das, Schwester. Wie oft geht hier die Sonne unter?« Und Neela Mahendra, die stets wie eine Königin aufgetreten war, neigte den Kopf wie eine Sklavin und sagte: »Niemals, Commander. Sie geht niemals unter.«
     
    Die Zelle - er sah sie längst nicht mehr als Zimmer - enthielt kein Bett und wies nicht einmal die rudimentärsten sanitären Einrichtungen auf. Demütigung war die Methode, nach der  Commander Akasz bei anderen verfuhr, das hatte bereits Neelas Behandlung deutlich gemacht. Solanka merkte, daß auch er gedemütigt werden sollte. Die Zeit verging; er hatte keine Uhr, von der er sie ablesen konnte. Die Brise legte sich und erstarb. Die Nacht, die nicht ins ideologische Konzept passende, nicht existierende Nacht, wurde feucht und stickig und dehnte sich endlos. Man hatte ihm eine Schale mit einem unidentifizierbaren Brei zu essen und einen Krug mit verdächtig aussehendem Wasser gebracht. Er versuchte, beidem zu widerstehen, aber Hunger und Durst waren Tyrannen, und schließlich aß und trank er doch. Anschließend kämpfte er gegen die Natur - bis zur unvermeidlichen Niederlage. Als er es nicht mehr zurückhalten konnte, pißte und schiß er verzweifelt in eine Ecke, zog sein Hemd aus und säuberte sich, so gut es eben ging. Es war schwer, nicht in den Solipsismus zu fallen, schwer, diese Degradierungen nicht als Strafe für ein unbeholfenes, schmerzhaftes Leben zu sehen. Lilliput-Blefuscu hatte sich nach seinem Vorbild neu erfunden. Seine Straßen waren seine Biographie, patrouilliert durch Produkte seiner Einbildung und veränderten Versionen von Menschen, die er gekannt hatte: Dubdub und Perry Pincus waren in ihrer Sci-Fi-Version hier, außerdem Masken- und Kostüm-Inkarnationen von Sara Lear und Eleanor Masters, Jack Rhinehart, Sky Schuyler und Morgen Franz. Sogar Space-Age-Wislawas und -Schlinks streiften durch die Straßen von Mildendo sowie auch Mila, Neela und er selbst. Die Masken seines Lebens umkreisten ihn streng, richteten über ihn. Er schloß die Augen, aber die Masken waren immer noch da, wirbelnd. Er senkte den Kopf vor ihrem Richterspruch. Er hatte sich gewünscht, ein guter Mensch zu sein, das Leben eines guten Menschen zu führen, aber in Wirklichkeit hatte er es einfach nicht geschafft. Wie Eleanor sagte: er hatte jene verraten, deren einziges Verbrechen es war, ihn geliebt zu haben. Als er

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