Wut
Unsicherheit ist der Kern dessen, was wir sind, Unsicherheit per se, dieses Gefühl, daß nichts in Stein gehauen ist, daß alles in Scherben fällt. Wie Marx vermutlich immer noch sagt, da draußen auf dem Schrottplatz der Ideen, dem intellektuellen St. Helena, auf das er verbannt wurde, alles, was fest ist, löst sich in Luft auf. In einem öffentlichen Klima solch tagtäglich hinaustrompeteter Sicherheit - wo hatten sich da unsere Ängste versteckt? Womit wurden sie genährt? Mit uns selbst, vielleicht, dachte Solanka. Während der Greenback allmächtig war und Amerika sich über die Welt erhob, feierten zu Hause psychologische Störungen und Verirrungen fröhliche Urständ. Unter der Wucht der selbstzufriedenen Rhetorik dieses umpaketierten, homogenisierten Amerika, dieses Amerika mit den zweiundzwanzig Millionen neuen Jobs und der höchsten Zahl von Haus- und Wohnungseigentümern in der Geschichte, in diesem Amerika des ausgeglichenen Staatshaushaltes, der geringen Verschuldung und der Aktienbesitzer waren die Menschen völlig gestreßt, brachen zusammen und redeten darüber den ganzen Tag in langen Endlosketten imbeziler Klischees. Bei den Jungen, den Erben der Fülle, war das Problem am akutesten. Mila, mit ihrer ultra-altklugen Pariser Erziehung, sprach häufig verächtlich von der Verwirrung ihrer Altersgenossen. Alle haben Angst, sagte sie, alle, die sie kannte, so gut ihre Fassade auch sein mochte, zitterten innerlich, und daß alle reich waren, spielte keine Rolle. Zwischen den Geschlechtern waren die Probleme am größten. »Die Boys wissen nicht mehr so recht, wie, wann oder wo sie die Mädchen anfassen sollen, und die Mädchen kennen kaum den Unterschied zwischen Verlangen und Angriff, Flirt und Offensive, Liebe und sexuellem Mißbrauch.« Wenn alles und jeder, den man anfaßt, sich auf der Stelle in Gold verwandelt, wie König Midas in dieser anderen klassischen Sage von der Vorsicht vor dem, was man sich wünscht, erfahren mußte, kann man schließlich gar nichts mehr und niemanden mehr anfassen.
Auch Mila hatte sich in letzter Zeit verändert, in ihrem Fall war diese Transformation nach Professor Solankas Meinung jedoch eine deutliche Verbesserung jenes oberflächlichen Kükens, das zwar ein Twen war, aber noch immer die Teenie-Queen spielte, als die sie unbedingt erscheinen wollte. Um ihren schönen Eddie zu halten, den College-Sporthelden - den sie Solanka als nicht die hellste Leuchte, aber ein lieber Kerl beschrieben hatte und für den eine intelligente, kultivierte Frau ganz zweifellos eine Bedrohung und ein Erotikkiller wäre -, hatte sie ihr eigenes Licht unter den Scheffel gestellt. Nicht ganz, mußte allerdings gesagt werden: Irgendwie hatte sie es schließlich geschafft, den Boyfriend und den Rest der Bengels in eine Kieslowski-Doppelfilmvorstellung zu locken, was entweder bedeutete, daß sie nicht so dumm waren, wie sie aussahen, oder daß sie eine noch größere Überredungskunst besaß, als Solkana ohnehin schon vermutete.
Tag um Tag erblühte sie vor Maliks verwunderten Augen zu einer jungen Frau voller Verstand und Kompetenz. Sie begann ihn zu allen Tageszeiten zu besuchen, entweder am Morgen, um ihn zu zwingen, ein Frühstück einzunehmen - er war es gewohnt, vor dem Abend nichts zu essen, eine Gewohnheit, die sie als einfach barbarisch und furchtbar ungesund für Sie bezeichnete, also begann er unter ihrer Anleitung in die Geheimnisse von Haferflocken und Kleie einzudringen und zu seinem frischen Kaffee am Morgen mindestens ein Stück Obst zu essen -, oder sie kam in den schwülen Nachmittagsstunden, die traditionell den verbotenen Liebesstunden vorbehalten waren. Aber Liebe hatte sie dabei nicht im Sinn. Sie machte ihn mit schlichteren Genüssen bekannt: grünem Tee mit Honig, Spaziergängen im Park, Einkaufsausflügen - Professor, die Lage ist kritisch; wir müssen umgehend drastische Maßnahmen ergreifen und Ihnen was Anständiges zum Anziehen kaufen - und sogar einem Besuch im Planetarium. Als er mit ihr mitten im Big Bang, dem Urknall, stand, ohne Hut, zwanglos gekleidet, neu und elastisch beschuht mit dem ersten Paar Sneakers, die er seit dreißig Jahren erstanden hatte, und sich fühlte, als sei sie seine Mutter und er ein Junge in Asmaans Alter - nun ja, vielleicht ein kleines bißchen älter -, wandte sie sich zu ihm um, beugte sich ein wenig hinunter, denn mit ihren Absätzen war sie mindestens fünfzehn Zentimeter größer als er, und nahm tatsächlich sein Gesicht in
Weitere Kostenlose Bücher