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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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von Bruder, Eddies Mechanikervater Tobe, ein billiger Kartenspieler, billiger Trinker, ein Arschloch, dessen Verrat sie alle fürs Leben verkrüppeln sollte. Und letztlich war da Judy Carver, Eddies Mom, die zu jener Zeit noch nicht mit dem Nikolaus und Jesus zu verkehren begonnen hatte und die mit ihrem guten Herzen seit Anfang der Siebziger jede Woche in die Berge hinaufstieg, bis sie fünfzehn Jahre später, als der kleine Eddie zehn Jahre alt war, den Mann aus den Bergen in die Stadt herunterlockte.
    Eddie erstarrte in Ehrfurcht vor diesem zotteligen, stinkenden Onkel und hatte mehr als nur ein bißchen Angst vor ihm; doch seine Kinderzeitausflüge zu Rays Hütte hinauf waren die Glanzlichter seiner Lebenserfahrung und für ihn die lebendigsten Erinnerungen, »besser als im Kino«, behauptete er. (Nach seinem fünften Geburtstag hatte Judy es sich angewöhnt, ihn mitzunehmen, weil sie hoffte, Ray in die Welt zurücklocken zu können, indem sie ihm die Zukunft zeigte, wobei sie sich auf Eddies Gutmütigkeit verließ, um das Herz des wilden Mannes für sich zu gewinnen.) Auf dem Weg in die Berge hinauf sang Judy alte Arlo-Guthrie-Songs, und der kleine Eddie sang mit: »It was late last night the other day, I thought I’d go up and see Ray, So I went up and I saw Ray, There was only one thing Ray could say, was, I don’t want a pickle, Just want to ride on my motorsickle ...« Doch dieser Ray war nicht der Ray aus dem Lied. Dieser Ray besaß keine Harley, und es gab keine Alice mit oder ohne Restaurant. Dieser Ray lebte von Bohnen und Wurzeln und vermutlich von Wanzen und Bakterien, schätzte Eddie, und von Schlangen, die er mit den bloßen Händen fing, und von Adlern, die er vom Himmel holte. Dieser Ray hinkte, hatte Zähne wie verfaultes Holz und einen Atem, der jeden nach ein paar Schritten umhaute. Und dennoch war dies der Ray, in dem Judy Carver Ford noch immer den hübschen Jungen zu sehen vermochte, der in den Krieg zog, den Jungen, der aus dem Silberpapier in den Zigarettenschachteln freistehende Figuren falten und der aus Tannenholz das Gesicht eines Mädchens schnitzen konnte, das er diesem dann für einen Kuß schenkte. (Puppen, staunte Malik Solanka. Kein Entkommen vor ihrem uralten Voodoo. Hier war schon wieder so ein gottverdammtes Puppenmachermärchen. Und schon wieder ein sanyasi. Das war es, was Mila gemeint hatte. Ein echterer sanyasi als ich, nahm er seinen Abschied von der Gesellschaft in der angemessen asketischen Form. Aber wie ich wollte er sich selbst vergessen, weil er Angst vor dem hatte, was unter der Oberfläche verborgen lag, was jeden Augenblick aufbrodeln und die unwürdige Welt in Schutt und Asche legen konnte.) Judy hatte Raymond sogar auch einmal geküßt, bevor sie diesen furchtbaren Fehler beging und sich für Tobe entschied, den sein schlimmer Rücken vor der Einberufung bewahrte und vor dessen schlimmem Charakter niemand sie bewahren konnte; niemand außer Ray, dachte sie. Wenn Ray aus seiner Festung herabstieg, wäre das vielleicht ein Zeichen, und die Dinge würden sich ändern, und die Brüder konnten angeln und bowlen gehen, und Tobe würde sein Verhalten ändern, und dann bekam sie vielleicht ein bißchen Frieden. Und schließlich kam Ray Ford tatsächlich, gewaschen und rasiert, in einem sauberen Hemd, so geschniegelt, daß Eddie ihn nicht erkannte, als er zur Tür hereinkam. Judy hatte ihr Namenstagsdinner gekocht, das gleiche Festessen, das sie später den Herren Nikolaus und Jesus Christus auftischte, und eine Zeitlang ging alles gut; nicht allzu viel Gerede, aber das war okay, alle versuchten sich daran zu gewöhnen, miteinander unter einem Dach zu leben.
    Beim Eisnachtisch begann Onkel Ray zu sprechen. Judy war nicht die einzige Frau gewesen, die ihn oben in den Wäldern besucht hatte. »Es hat noch eine andere gegeben«, sagte er zögernd. »Eine Frau namens Hatty, Carole Hatty, die weiß, daß ein paar von uns da oben in den Wäldern hausen, und weil sie ein gutes Herz hat, ist sie manchmal gekommen, um uns Kleider und Pies und so zu bringen, obwohl es da wirklich verrückte Kerle gibt, die auf alles, was ihnen auf drei Meter nahe kommt, mit der Axt losgehen, auf Mann, Frau, Kind oder tollwütigen Hund.« Während er von der Frau erzählte, wurde Onkel Ray puterrot und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ist sie sehr wichtig für dich, Raymond? Sollen wir sie mal zu uns einladen?« Worauf sich das Schlangenstinktierwiesel ihm gegenüber am Küchentisch auf

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