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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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und ihrer Hände, das Ausmaß, in dem sie sich zusammenrollte, das exakte Gewicht, mit dem sie sich an ihn schmiegte: ihre hochgradig präzise Erinnerung und ihr infinitesimales Korrigieren dieser Variablen waren an sich schon stark erregende sexuelle Handlungen. Denn allmählich fielen die Schleier von ihrem Spiel, wie Mila Professor Solanka bei jeder (mit jedem Tag eindeutigeren) Berührung bewies. Die Wirkung von Milas immer intensiveren Zärtlichkeiten auf Professor Solanka war elektrisierend, in seinem Alter und in seiner Lebenslage hatte er nicht gedacht, jemals wieder eine solche Wohltat zu empfangen. Jawohl, sie hatte ihm den Kopf verdreht, hatte schon damit begonnen, während sie noch vorgab, nichts dergleichen im Sinn zu haben, und nun war er tief in ihr gesponnenes Netz verstrickt. Die Webspyderkönigin, die Herrin der ganzen Webspyderbande, hielt ihn in ihrem Netz gefangen.
    Es gab noch eine weitere Veränderung. Genau wie er den Namen einer Puppe ausgesprochen hatte, versehentlich oder unter dem Druck eines ihm kaum bewußten Begehrens, so entschlüpfte auch ihr eines Nachmittags ein verbotenes Wort. Und sofort war dieses mit Läden verschlossene, verdunkelte Wohnzimmer wie durch Zauberhand in grelles, bloßstellendes Licht getaucht, und Professor Malik Solanka kannte Mila Milos Hintergrundgeschichte. Es waren immer mein Dad und ich, hatte sie selbst gesagt, immer er und ich gegen den Rest der Welt. Da war es, mit ihren eigenen, unverhohlenen Worten. Sie hatte es direkt vor Solankas Füße gelegt, und er war zu blind (oder nicht willens?) gewesen, um zu sehen, was sie ihm so offen und schamlos zeigte. Doch als Solanka sie nach ihrem Versprechen ansah - der, wie ihm immer klarer wurde, gar kein Versprecher gewesen war, denn sie war eine Frau mit einer ungeheuer starken Selbstbeherrschung, der so ein Lapsus niemals passiert wäre -, verrieten diese scharfen und irgendwie kryptischen Züge, die schrägstehenden Augen, dieses Gesicht, das am verschlossensten war, wenn es am offensten wirkte, dieses schlaue, kleine, heimliche Lächeln endlich ihr Geheimnis.
    Papi , hatte sie gesagt. Dieses verräterische Diminutiv, dieses befrachtete Wort der Liebe, geflüstert ins Ohr eines Toten, hatte als Sesam-öffne-dich zu ihrer finsteren Kindheitshöhle gewirkt. Da saßen der verwitwete Dichter und sein frühreifes Kind. Da lag ein Kissen auf seinem Schoß und sie darauf, Jahr um Jahr, sie rollte sich zusammen, streckte sich, schmiegte sich an ihn, küßte seine Schamestränen davon. Dies war das Herz, das Herz seiner Tochter, die versuchte, den Vater für den Verlust der Frau zu entschädigen, die er liebte, zweifellos teilweise auch für ihren eigenen Verlust, indem sie sich an den Elternteil klammerte, der ihr geblieben war, aber auch um diese Frau in der Zuneigung dieses Mannes zu ersetzen, den verbotenen, leeren Platz der toten Mutter besser auszufüllen, als er von ihr selbst ausgefüllt worden war, denn er sollte sie brauchen, sollte die lebende Mila mehr brauchen, als er je seine Frau gebraucht hatte; sie würde ihm neue Tiefen des Brauchens zeigen, bis er sie mehr begehrte, als er sich jemals hätte vorstellen können, die Berührung einer Frau zu begehren. Dieser Vater - nach seinen eigenen Erfahrungen mit Milas Macht war Solanka absolut sicher, zu wissen, was geschehen war - wurde von seiner Tochter ganz langsam verführt, Millimeter um Millimeter auf unbekanntes Territorium gelockt, auf sein niemals entdecktes Verbrechen zu. Hier war der große Schriftsteller, l’ecrivain nobelisable, das Gewissen seines Volkes, und gestattete diesen entsetzlich kundigen kleinen Händen, sich an die Knöpfe seines Hemdes heranzutasten, und erlaubte irgendwann einmal das Unerlaubbare, überschritt die Grenze, von der es keine Rückkehr gab, und begann, unter Qualen, aber auch begierig mitzumachen. So wurde ein religiöser Mann auf ewig zu einer Todsünde verführt, von seinem Begehren gezwungen, seinen Gott zu verleugnen und den Pakt mit dem Teufel zu unterzeichnen, während das heranwachsende Mädchen, sein Dämonenkind, der Kobold im Herzen der Blüte, die beschwichtigenden, glaubensmordenden Worte flüsterte, die ihn hinabzogen: Das hier geschieht nicht, solange wir nicht sagen, daß es geschieht, und wir sagen nicht, daß es geschieht, nicht wahr, Papi, also geschieht es nicht. Und weil nichts geschah, war auch nichts unrecht. Der tote Dichter war in jene Welt der Phantasie eingetreten, wo alles immer sicher ist, wo das

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