Wut
Krokodil Captain Hook niemals erwischt und wo ein kleiner Junge niemals seiner Spielsachen müde wird. So entdeckte Malik Solanka das wahre Ich seiner Geliebten und sagte: »Dies ist ein Echo, nicht wahr, Mila, eine Reprise. Du hast dieses Lied schon einmal gesungen.« Aber sofort korrigierte er sich innerlich selbst. Nein, nein, hör auf, dir selbst zu schmeicheln. Nicht nur einmal. Du bist bei weitem nicht der erste.
Still , sagte sie und legte ihm einen Finger auf die Lippen. Still, Papi, nicht. Es ist damals nichts geschehen, und es geschieht auch jetzt wieder nichts. Daß sie den belastenden Kosenamen zum zweitenmal aussprach, verlieh ihm eine neue, flehende Bedeutung. Sie brauchte das, sie brauchte seine Zustimmung. Die Spinne war in ihrem eigenen nekrophilen Netz gefangen, auf Männer wie Solanka angewiesen, um ihren Geliebten langsam, ganz langsam von den Toten zu erwecken. Dank dem Gott, der nicht existiert, daß ich keine Töchter habe, dachte Malik Solanka. Dann packte ihn das Elend und drohte ihn zu ersticken. Keine Tochter, aber ich habe auch meinen Sohn verloren. Elián, die Ikone, ist mit seinem Papa nach Cärdenas auf Kuba zurückgekehrt, aber ich kann nicht zu meinem Jungen nach Hause gehen. Milas Lippen lagen jetzt an seinem Hals, strichen über seinen Adamsapfel, und er spürte ein leichtes Saugen. Der Schmerz ließ nach; und auch etwas anderes wurde von ihm genommen. Seine Worte wurden von ihm genommen. Sie sog sie aus ihm heraus und verschluckte sie, und er würde sie nie wieder aussprechen können, die Worte, welche die Sache beschrieben, die nicht geschah, welche die Spinnen-Hexe in ihrer schwarzen, gebieterischen Art niemals erlauben würde.
Und was, spekulierte Solanka ins Blaue hinein, wenn sie sich von seiner Wut nährte? Was, wenn sie am hungrigsten nach dem war, was er am meisten fürchtete, nach dem Kobold des Zorns in ihm? Denn sie war ebenfalls von Wut getrieben, das wußte er, von der wilden, tyrannischen Wut ihrer verborgenen Sehnsucht. In diesem Moment der Offenbarung hätte Solanka sofort glauben können, daß dieses schöne, verfluchte Mädchen, dessen Gewicht sich mit so lasziver Trägheit auf seinem Schoß bewegte, dessen Fingerspitzen seine Brusthaare so hauchzart berührten wie eine sommerliche Brise und dessen Lippen sanft über seine Kehle strichen, tatsächlich die Inkarnation der Wut war, eine der drei Furienschwestern, dieser Geißeln der Menschheit. Wut war ihre göttliche Natur, und schäumender Zorn ihre Lieblingsnahrung. Er hätte sich einreden können, hinter ihrem leisen Flüstern, unter ihrem unfehlbar gemäßigten Ton die Erinnyen kreischen zu hören.
Eine weitere Seite ihrer Vorgeschichte offenbarte sich ihm. Hier war der Dichter Milo mit seinem schwachen Herzen. Dieser begabte, getriebene Mann hatte jeden ärztlichen Rat in den Wind geschlagen und fuhr mit einer fast absurden Maßlosigkeit fort, zu trinken, zu rauchen und Frauen zu lieben. Seine Tochter hatte eine Erklärung Conradinischer Erhabenheit für sein Verhalten geliefert: Man muß das Leben leben, bis es nicht mehr gelebt werden kann. Doch als Solanka die Augen aufgingen, sah er ein anderes Bild des Dichters, das Porträt eines Künstlers, der sich vor einer schweren Sünde in den Exzeß flüchtete, vor dem, was er tagtäglich als den Tod seiner Seele erlebt haben mußte, wofür sie in alle Ewigkeit in den qualvollsten Kreis der Hölle verdammt wurde. Dann kam jene letzte Reise, Papi Milos selbstmörderische Flucht zu seinem mörderischen Namensvetter. Auch das verriet Malik Solanka jetzt etwas anderes als das von Mila Dargestellte. Auf der Flucht vor einem Übel war Milo ausgezogen, um sich dem zu stellen, was er für die geringere Gefahr hielt. Vor dieser zerstörerischen Furie, seiner Tochter, fliehend, lief er auf seinen vollen, ungekürzten Namen zu, auf sich selbst. Mila, dachte Solanka, du hast deinen durchgedrehten Vater vermutlich in den Tod getrieben. Und was magst du jetzt für mich vorgesehen haben?
Darauf wußte er nur eine erschreckende Antwort. Mindestens ein Schleier hing noch zwischen ihnen, nicht über ihrer Story, sondern über seiner. Er hatte von der ersten Minute dieser verbotenen Liaison an gewußt, daß er mit dem Feuer spielte, daß alles, was er tief in sich selbst vergraben hatte, aufgerührt, daß die Siegel eins nach dem anderen gebrochen wurden und daß die Vergangenheit, die ihn schon einmal fast vernichtet hatte, jetzt vielleicht eine zweite Chance bekam, ihr Werk zu
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