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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Verhaftungen und Geständnisse gegeben, und die Nachrichtenmedien wurden ungeduldig; die Möglichkeit eines Serienkillers aus der Oberschicht war spannend und verlockend, und daß die New Yorker Polizei den Fall nicht lösen konnte, war infolgedessen um so frustrierender. Klagt diese hochnäsigen Taugenichtse des Mordes an! Einer von ihnen muß zusammenbrechen! Durch diese spekulativen Kommentare, auf die man immer wieder stieß, wurde eine unappetitliche Lynch-Mob-Atmosphäre geschaffen. Solankas Aufmerksamkeit richtete sich auf die einzige mögliche Spur. Mr. Panamahut war in der Rollenbesetzung dieses ungelösten Kriminalromans durch eine noch seltsamere Gruppe von Personen abgelöst worden. In der Nähe aller drei Mordschauplätze waren Personen in Disney-Kostümen gesichtet worden: bei Lauren Kleins Leiche ein Goofy, bei Belinda Booken Candells Leiche ein Buzz Lightyear, und wo Saskia Schuyler lag, hatte ein Passant einen Rotschopf in Lincolngrün entdeckt: Robin Hood persönlich, Quälgeist des bösen, alten Sheriffs von Notting Ham und nun also Flüchtling vor den Sheriffs von Manhattan. Jodelahiti! Die Detectives räumten ein, daß es unmöglich sei, mit einiger Sicherheit eine gewisse Verbindung zwischen den drei Beobachtungen herzustellen, aber so ein Zufall sei zweifellos merkwürdig - bis Halloween waren es noch viele Monate -, und sie würden dies keinesfalls aus den Augen verlieren.
    In den Köpfen der Kinder, dachte Solanka, sind die Kreaturen der Phantasiewelt - Personen aus Büchern, Videos oder Songs - tatsächlich weit realer als die meisten lebenden Menschen, Eltern ausgenommen. Wenn wir heranwachsen, verlegt sich die Gewichtung, und die Fiktion wird in eine separate Realität verwiesen, eine Welt für sich, von der wir meinen, daß sie dort hingehört. Hier jedoch war der makabre Beweis dafür, daß die Fiktion diese angeblich unüberwindliche Grenze überqueren kann. Asmaans Welt - Disney World - überschritt sie in New York und mordete die jungen Frauen der Stadt. Und ein oder mehrere sehr böse Jungen waren auch irgendwo in diesem Video versteckt.
    Wenigstens hatte es eine Zeitlang keine Betonkillermorde mehr gegeben. Außerdem hatte Solanka, dank Mila, weit weniger getrunken, und infolgedessen waren auch keine Amnesieanfälle mehr aufgetreten: Er wachte nicht mehr in seiner Straßenkleidung und mit schrecklichen, nicht zu beantwortenden Fragen im schmerzenden Kopf auf. Es gab sogar Momente, da war er, wenn er in Milas Bann geriet, zum erstenmal seit Monaten ganz nahe daran gewesen, glücklich zu sein. Und dennoch dräuten noch immer die dunklen Göttinnen über ihm und träufelten ihm ihre Bosheit ins Herz. Wenn Mila bei ihm war, in diesem holzgetäfelten Raum, in dem sie sich, sogar wenn Gewitter den Himmel verdunkelten, nicht mehr die Mühe machten, das Licht anzuknipsen, hielt sie ihn im Zauberkreis ihres Charmes; aber sobald sie fort war, machten sich in seinem Kopf wieder die Geräusche bemerkbar. Das Gemurmel, das Schlagen schwarzer Schwingen. Nach seinem ersten frühmorgendlichen Telefongespräch mit Asmaan und Eleanor bohrte sich ein Messer in ihn, wandte sich das Gemurmel zum erstenmal gegen Mila, seinen Engel der Barmherzigkeit, seine lebende Puppe.
    Ihr Gesicht lag nun im Halbschatten, ihre scharfen Züge schmiegten sich behaglich an sein halb geöffnetes Hemd, das kurze rotgoldene Stachelhaar streifte die Unterseite seines Kinns. Die Wiederholungen alter Fernsehfilme liefen längst nicht mehr, ein Vorwand, der seinen Zweck erfüllt hatte. In der letzten Zeit, an jenen trägen, dunklen Nachmittagen, sprachen sie kaum noch, und wenn sie es taten, dann nicht mehr über Philosophie. Manchmal glitt ihre Zunge sekundenlang über seine Brust. Jeder Mensch braucht eine Puppe zum Spielen, flüsterte sie. Professor, Sie armer, zorniger Mann, es ist so lange her. Still, es hat keine Eile, nehmen Sie sich Zeit, ich gehe nicht fort, niemand wird uns stören, ich bin für Sie da. Lassen Sie ihn los. Sie brauchen ihn nicht mehr, diesen furchtbaren Zorn. Sie brauchen sich nur daran zu erinnern, wie man spielt. Da waren ihre langen Finger mit den blutroten Nägeln, die sich den Weg, jeden Tag um eine Winzigkeit, tiefer in sein Hemd hinein suchten.
    Ihre Erinnerung war außergewöhnlich stark ausgeprägt. Jedesmal, wenn sie ihn besuchte, vermochte sie genau die Position auf seinem kissenbedeckten Schoß einzunehmen, die sie am Ende ihres letzten Besuchs erreicht hatte. Die Plazierung ihres Kopfes

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