Wut
der Beweis für das, was alle dachten und was Morgen und später Lin Franz in Worte gefaßt hatte: daß sie der bessere Mensch von ihnen beiden war, zu gut für ihn, und sobald sie sich von ihrem Schmerz erholt hatte, würde es ihr ohne ihn besser gehen. Wobei nichts davon ihr jetzt ein Trost sein würde, weder ihr noch dem Kind, in dessen Arme zurückzukehren er nicht wagte - der Sicherheit des Jungen wegen. Denn er wußte, daß er die Furien noch nicht abgeschüttelt hatte. Tief in seinem Inneren siedete und brodelte noch immer ein zusammenhangloser, doch kontinuierlicher Zorn und drohte, ohne Vorwarnung in einem mächtigen Vulkanausbruch zutage zu treten; als wäre er sein eigener Herr, als wäre er selbst nur das Gefäß, der Wirt, und sie, die Wut, wäre das fühlende, beherrschende Wesen. Trotz aller scheinbar nekromantischen Fortschritte der Wissenschaft war dies eine prosaische Zeit, in der behauptet wurde, man könne alles mit dem Verstand erklären; und Professor Solanka, der Malik Solanka, der sich jüngst des Unerklärlichen in sich selbst bewußt geworden war, hatte stets fest auf der Seite der prosaischen Partei gestanden, der Partei der Vernunft und Wissenschaft in ihrer ursprünglichen und weitesten Bedeutung: scientia, das Wissen. Doch selbst in diesen mikroskopisch genau beobachteten und endlos erläuterten Zeiten entzog sich das, was in ihm kochte, jeglicher Erklärung. Da ist etwas in uns, mußte er zugeben, das kapriziös ist und für das die Sprache der Erklärungen keinen Ausdruck hat. Wir bestehen aus Schatten und aus Licht, aus Hitze und aus Staub. Der Naturalismus, die Philosophie des Sichtbaren, kann uns nicht für sich behalten, denn wir gehen darüber hinaus. Wir fürchten dies in uns, unser grenzüberschreitendes, regelnbrechendes, formwechselndes, transgressives, sündhaftes Schatten-Ich, den wahren Geist in unserer Maschine. Weder im jenseitigen Leben noch in irgendeiner unwahrscheinlichen, unsterblichen Sphäre, sondern hier auf Erden entrinnt der Geist den Fesseln dessen, was wir unseres Wissens sind. Er könnte sich, wutentbrannt ob seiner Gefangenschaft, im Zorn erheben und die Verstandeswelt in Trümmer legen.
Was auf ihn zutraf, überlegte er plötzlich wieder einmal, könnte bis zu einem gewissen Grad auch auf alle anderen zutreffen. Die ganze Welt hing an einer kurzen Lunte. In jedem Körper drehte sich ein Messer, für jeden Rücken gab es eine Geißel. Wir wurden alle schwer provoziert. Überall hörte man Explosionen. Das menschliche Leben spielte sich jetzt in dem Moment vor der Wut ab, wenn der Zorn wuchs, oder in dem Moment während - die Stunde der Wut, die Zeit der Freilassung des Untiers - oder in den Ruinen nach einer großen Gewalttat, wenn die Wut abebbte und sich das Chaos beruhigte, bis wiederum die Flut einsetzte. Krater waren - in den Städten, den Wüsten, den Nationen, in den Herzen - etwas Alltägliches geworden. Die Menschen fletschten die Zähne und kauerten sich in die Trümmer ihrer eigenen Missetaten.
Trotz (oder häufig wegen) Mila Milos Dienstleistungen mußte Professor Solanka in den vielen schlaflosen Nächten seine brodelnden Gedanken beruhigen, indem er stundenlang, sogar im Regen, durch die Straßen der Stadt wanderte. Ein paar Häuserblocks weiter wurde die Amsterdam Avenue aufgerissen, der Bürgersteig wie auch die Fahrbahn selbst (an manchen Tagen hatte man das Gefühl, die ganze Stadt werde aufgerissen), und als er eines Nachts durch einen mittelschweren Wolkenbruch an einem schlecht gesicherten Loch vorbeikam, stieß er sich den großen Zeh an einem Hindernis und brach in eine drei Minuten lange Tirade von Flüchen aus. Als er dann schwieg, hörte er eine bewundernde Stimme, die unter einer Ölzeugplane in einem Hauseingang hervorkam: »Mann, jetzt hab ich aber wirklich ’n paar neue Wörter gelernt.« Solanka bückte sich, um zu sehen, woran er sich den Fuß gestoßen hatte, und da lag auf dem Bürgersteig ein herausgebrochener Betonpflasterstein; woraufhin er in einen ungeschickten Hinketrab fiel und vor dem Betonbrocken floh wie ein Täter, der den Schauplatz seines Verbrechens verläßt.
Seit die Ermittlungen im Fall der drei Morde an Töchtern der guten Gesellschaft sich auf die drei reichen jungen Männer konzentrierten, empfand er ein Gefühl der Erleichterung, doch im Grunde seines Herzens hatte er sich noch nicht ganz freigesprochen. Die Berichte über den Stand der Ermittlungen verfolgte er sorgfältig. Es hatte noch immer keine
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