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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sie.
     

10
    Asmaan bohrte wie ein Messer in ihm: Asmaan am Morgen, wie er die natürlichen Körperfunktionen immer besser beherrscht und dies vor einem applaudierenden - wenn auch schamlos parteilichen - Publikum aus zwei Personen zur Schau stellt. Asmaan in seinen Tagesrollen als Motorradfahrer, Zeltbewohner, Sandkastenkaiser, guter Esser, schlechter Esser, Gesangsstar, Star mit Wutausbrüchen, Feuerwehrmann, Raumfahrer, Batman. Asmaan nach dem Dinner, während der einen, ihm erlaubten Videostunde, beim Betrachten endloser Wiederholungen von Disneyfilmen. Sehr beliebt war Robin Hood, mit seinem absurden Notting Ham , mit einem singenden Country-and-Western-Hahn, billigen Parodien auf Baloo und Kaa aus dem Dschungelbuch, dem unkaschierten amerikanischen Akzent im gesamten Sherwood Forest und dem immer wieder ausgestoßenen alt-englischen Disney-Ruf »Jodelahiti!«. Toy Story dagegen war tabu. »Da ist ein gäslicher Junge dabei!« Gäslich war gräßlich, und der Junge machte ihm angst, weil er seine Spielsachen schlecht behandelte. Dieser Verrat an der Liebe erschreckte Asmaan. Er identifizierte sich mit den Spielsachen, nicht mit ihrem Besitzer. Die Spielsachen waren wie die Kinder des Jungen, und daß er sie schlecht behandelte, war in Asmaans dreijährigem Moral-Universum ein so schlimmes Verbrechen, daß man gar nicht daran denken mochte. (Genauso wie der Tod. In Asmaans Version von Peter Pan konnte Captain Hook jedesmal dem Krokodil entwischen.) Und nach dem Video-Asmaan kam dann der Abend-Asmaan, Asmaan im Bad, wie er sich von Eleanor die Zähne putzen ließ und wie er vorsorglich verkündete: »Heute waschen wir nicht die Haare.« Asmaan, schließlich, wie er, die Hand des Vaters haltend, ins Bett ging und einschlief.
    Der Junge hatte sich angewöhnt, Solanka ohne Rücksicht auf den Zeitunterschied von vier Stunden anzurufen. Eleanor hatte die New Yorker Nummer ins Direktwahlsystem des Küchentelefons an der Willow Road eingespeichert; Asmaan brauchte nur noch einen einzigen Knopf zu drücken. Hallo, Daddy, kam seine transatlantische Stimme (der erste Anruf war um fünf Uhr morgens erfolgt): Ich war im Pa’t, Daddy, und da war’s schön. Park , Asmaan, versuchte der schlaftrunkene Solanka seinen Sohn zu belehren. Sag mal Park. Pa’t. Wo bist du, Daddy, bist du zu Hause? Kommst du nicht wieder zu uns? Ich hätte dich in den Wagen setzen sollen, Daddy, ich hätte dich zu den Schaufeln mitnehmen sollen. Schaukeln. Sag Schaukeln. Ich hätte dich zu den Schaukeln mitnehmen sollen, Daddy. Morgen hat mich immer viel höher geschubst. B’ingst du mir ein ssönes Pätchen mit, Daddy? Sag bringen, Asmaan. Sag schönes. Du kannst es doch. B-ringst du mir ein sch-schönes Päckchen mit, Daddy? Was ist da d’in? Drin, Asmaan. Sag drin. D-rin. Wird es mir gefallen? Daddy, du gehst nie mehr weg. Ich lasse dich nicht weg. Im Pa’t hab ich ein Eisteem gegessen. Morgen hat ihn mir getauft. Das hat gut geschmeckt. Sag Eiskrem, Asmaan. Eiskrem. Eleanor kam an den Apparat. »Tut mir leid, er ist runtergekommen und hat ganz allein auf den Knopf gedrückt. Leider bin ich nicht aufgewacht.« Ach was, macht nichts, antwortete Solanka, woraufhin eine lange Pause folgte.
    Dann sagte Eleanor unsicher: »Malik, ich weiß einfach nicht, was los ist. Ich breche zusammen. Können wir nicht, wenn du nicht nach London kommen willst, könnte ich einen Flieger, ich könnte Asmaan bei seiner Oma lassen, und wir könnten uns zusammensetzen und versuchen, dieses Problem zu lösen, was immer es ist, o Gott, ich weiß nicht mal, was es ist, könnten wir es nicht zu lösen versuchen? Oder haßt du mich jetzt, verabscheust du mich auf einmal aus irgendeinem Grund? Gibt es eine andere? Muß es doch wohl, oder? Wer ist es? Um Gottes willen, sag es mir, wenigstens wäre das logisch, und dann könnte ich verdammt noch mal richtig wütend auf dich sein, statt ganz langsam den Verstand zu verlieren.«
    Tatsächlich fehlte ihrer Stimme noch immer jeder Anflug von echtem Zorn. Aber ich habe sie ohne ein Wort verlassen, dachte Solanka: Früher oder später muß sich ihr Kummer doch in Wut verwandeln. Vielleicht würde sie es ihrem Anwalt überlassen, ihrer Wut für sie Ausdruck zu verleihen, die kalte Wut des Gesetzes gegen ihn loslassen. Aber er vermochte in ihr keine zweite Bronislawa Rhinehart zu sehen. Rachsucht lag einfach nicht in ihrer Natur. Aber daß da so wenig Zorn war: das war unmenschlich, ja, sogar ein bißchen beängstigend. Oder aber

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