Xeelee 1: Das Floss
Floßes betraf – das Bergwerk auf dem Gürtel und (vielleicht) die legendären, verlorenen Boney-Welten, so wußte Rees aus Erfahrung, daß dort das Verständnis der Geschichte der Menschheit und der Struktur des Universums fast ausschließlich auf Legenden reduziert war.
Zum Glück für die Wissenschaftler waren die meisten Auszubildenden der anderen Klassen mit diesem Stand der Dinge ganz zufrieden. Insbesondere die Offiziersschüler saßen ihre Unterrichtstunden mit allen Anzeichen der Langeweile ab, und es war offensichtlich, daß sie diesen trockenen Stoff schnell hinter sich bringen wollten, um möglichst bald ins richtige Leben einzutreten und Macht auszuüben.
So hatten die Wissenschaftler zwar keine Konkurrenz, aber Rees war von der Weisheit ihres Handelns dennoch nicht überzeugt. Das Floß selbst, obwohl immer noch komfortabel und im Vergleich zum Gürtel gut versorgt, wurde nun von Versorgungsengpässen heimgesucht. Unzufriedenheit war weit verbreitet, und da die Leute nicht über genug Wissen verfügten, um den (mehr oder weniger) substantiellen Beitrag der privilegierteren Klassen zu ihrem Wohlergehen richtig einzuschätzen, wurden diese Klassen immer häufiger zur Zielscheibe von diffusem Zorn.
Es war eine explosive Stimmungslage.
Und das Unter-Verschluß-Halten von Wissen hatte, wie Rees feststellte, zudem einen kontraproduktiven Effekt. Indem man nüchterne Tatsachen mystifizierte, verlieh man ihnen den Anschein des Heiligen, Unantastbaren; und so konnte er die Wissenschaftler dabei beobachten, wie sie sich in alte Bücher vertieften und Litaneien von Weisheiten intonierten, die über das Schiff und seine Besatzung auf das Floß gelangt waren. Die Hypothese zuzulassen, daß es vielleicht Fakten geben könnte, die über das, was auf diesen alten Seiten niedergeschrieben war, hinausgingen, oder daß die alten Bücher gar – man wagte es kaum zu sagen – Ungenauigkeiten oder Fehler enthalten könnten – dazu waren sie entweder nicht bereit oder nicht fähig.
Trotz all seiner Zweifel und Fragen waren die Schichten, die seiner Aufnahme auf dem Floß folgten, für Rees die glücklichsten seines Lebens. Als vollwertiger Assistent war er zu mehr berechtigt als nur dazu, sich Gryes lustlose Vorträge auf infantilem Niveau anzuhören; nun saß er mit den anderen Assistenten in einer Vorlesung und lernte auf eine strukturierte und konsistente Weise. Außerhalb der Unterrichtszeit vertiefte er sich stundenlang in Bücher und Fotografien – und niemals würde er ein altes Bild vergessen, auf das er in einem abgegriffenen Heft gestoßen war: Ein Foto von der Peripherie des Nebels, als er noch blau war.
Blau!
Die magische Farbe erschien vor seinen Augen, genauso klar und kühl, wie er es sich immer vorgestellt hatte.
Zunächst saß Rees inmitten von Assistenten, die einige tausend Schichten jünger waren als er, und fühlte sich ziemlich unwohl dabei; aber er lernte schnell, zur widerwilligen Bewunderung seiner Dozenten, und bald hatte er aufgeholt und durfte die Vorlesungen belegen, die von Hollerbach selbst gehalten wurden.
Hollerbachs Unterrichtsstil war genauso schwungvoll und fesselnd wie der Mann selbst. Der alte Wissenschaftler klammerte sich nicht an vergilbte Texte und alte Fotografien, sondern ermutigte seine Studenten zu selbständigem Denken; die Konzepte, die er entwickelte, unterlegte er mit Worten und Gesten.
In einer Schicht ließ er jeden Studenten seines Kurses ein einfaches Pendel konstruieren – ein schweres, an einer Schnur befestigtes metallenes Anhängsel – und seine Schwingungsdauer vor dem Hintergrund einer brennenden Kerze messen. Rees fertigte sein Pendel an, reduzierte so, wie Hollerbach es ihnen gesagt hatte, den Schwingungswinkel auf ein paar Grad und zählte sorgfältig die Anzahl der Schwingungen. Aus dem Augenwinkel registrierte Rees, wie ein paar Reihen vor ihm Doav lustlos den Ablauf des Experiments verfolgte; immer wenn Hollerbach seinen kritischen Blick von ihm abwandte, stieß Doav betont gelangweilt das vor ihm schwingende Pendel mit einem Finger an.
Die Studenten brauchten nicht lange, um herauszufinden, daß die Schwingungsdauer des Pendels ausschließlich von der Länge der Schnur abhing, keinesfalls aber von der Masse des Pendelgewichts.
Rees war von diesem einfachen Sachverhalt fasziniert (um so mehr, weil er selbst darauf gekommen war); nach dem Ende der Vorlesung blieb er noch viele Stunden in dem kleinen Übungslabor und führte das Experiment
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