Xeelee 2: Das Geflecht der Unendlichkeit
der Kammer; es roch nach Rauch und brennendem Fleisch.
»Mein Gott«, sagte Miriam schwer atmend. Sie wußte, daß sie noch Glück gehabt hatte; der Geschützstand der Singularitäten-Kanone, an der sie mit Jaar gearbeitet hatte, befand sich ein gutes Stück außerhalb des Schadensbereichs. Jaar schrie unartikuliert auf und lief vom Steuerpult weg. Berg packte ihn am Arm. »Nein!« Sie drehte ihn herum. »Sei kein Narr, Jaar. Verdammt, es gibt nichts, was du für sie tun könntest; der beste Platz für dich ist hier.«
Jaar drehte den Kopf von ihr weg, in Richtung der verwüsteten Sektionen des Erd-Schiffes.
Jetzt wurde sie von einer Woge kirschroten Lichts geblendet. Der Spline hatte einen Weg durch die zerstörte Kuppel gefunden und bestrich nun die Kammer selbst mit dem Strahl des Sternenhammers. Sie hob die Hand, um die Augen vor der Glut der Kuppel abzuschirmen, und sah, daß die Kristallfläche über einem Abschnitt der Singularitätenebene trübe und rissig geworden war; sie wurde von Rissen durchzogen wie schmelzendes Eis. In diesem Bereich gab es keine Überlebenden mehr. Und die Singularitäten selbst, weißglühende Spinnen in ihrem Netz aus blauem Licht, bewegten sich. Sie verschoben sich.
Im ganzen Bereich der künstlichen Kaverne schienen die Freunde nun ihre bisherige Disziplin verloren zu haben. Sie verließen stolpernd ihre Konsolen und ballten sich in wirren Ansammlungen zusammen; oder sie rannten selbstmörderisch in die Zone der Verwüstung. Die Singularitäten-Geschütze schwiegen; es stiegen keine Funken mehr ins All auf.
Berg erkannte, daß die Freunde erledigt waren.
Berg ließ Jaar los und wandte sich wieder dem Steuerpult zu. Sie versuchte, das alles zu ignorieren – den Gestank nach Fleisch, den Wind im Gesicht, das unheimliche Knirschen des sich auflösenden Xeelee-Baumaterials – und sich in die Bedienung dieses Geschützes einzuarbeiten. Alle Funktionen waren auf einer Benutzeroberfläche aufgeführt, die auf Fingerdruck reagierte, und die Menüsteuerung war logisch strukturiert. Indem sie die farbigen Felder leicht antippte, ging sie die Benutzerführung durch.
In einem Augenwinkel sah sie schematische Darstellungen des Erd-Schiffes – große Abschnitte der Kuppelbasis leuchteten rot – sowie Kurven, Zahlenreihen und Angaben zu weniger gravierenden Schäden.
»Wie schlimm ist es?« fragte Berg. »Verlieren wir die Luft?«
Jaar beobachtete sie geistesabwesend mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Nein«, antwortete er mit einem heiseren Schreien, das den chaotischen Krach noch übertönen konnte. »Die Breschen in der Kuppel befinden sich oberhalb der dichtesten Atmosphäre; die Gravitationsquelle der Singularitätenebene hält den Großteil der Luft als dicke Schicht an der Oberfläche… zumindest noch für die nächsten paar Minuten. Aber die Luft wird aus dieser Bresche hinaussickern. Sie wird die ganze Hitze absorbieren und aus der zerstörten Hülle aufsteigen… und die Kuppel selbst kann dadurch noch weiter beschädigt werden.«
»In Ordnung. Wie sieht es mit der Singularitätenebene aus?«
Er blickte flüchtig auf die Schaltkonsole, hob zittrig die Hand und patschte fast beiläufig auf den Sensorschirm. »Wir haben die Kontrolle über ungefähr dreißig Prozent der Singularitäten verloren. Die Integrität der stabilisierenden elektromagnetischen Abschirmung besteht nicht mehr.«
Berg runzelte die Stirn und versuchte, die richtigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. »Was bedeutet das für uns?«
»Zu diesem Szenario haben wir keine Simulationen ablaufen lassen.« Er drehte sich zu ihr um, wobei der Schweiß auf seiner Kopfhaut im Licht des Sternenhammers glitzerte. »Wir haben hier einen GAU; wir können in diesem Fall nichts tun. Aufgrund der gegenseitigen Anziehung werden sich die freien Singularitäten zusammenballen. Die Gleichungen n-ter Ordnung wären sicher ganz interessant… Natürlich wird diese Singularitätenballung am Schluß implodieren.
Es ist aus.« Seine Schultern schüttelten sich konvulsivisch unter der dünnen Hülle aus schmutzig-rosa Gewebe.
Sie starrte ihn an. Sie hatte das Gefühl, daß Jaar genau in diesem Moment – gebrochen, wie er war – bereit gewesen wäre, ihr alles zu sagen, was sie über dieses verdammte Projekt hören wollte: daß all die Fragen, die sie in den Monaten umgetrieben hatten, seit sie mit dem Hintern voran diesen Freunden von Wigner in den Schoß gefallen war, schließlich doch noch gelöst würden… »Mein Gott,
Weitere Kostenlose Bücher