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Xeelee 3: Ring

Xeelee 3: Ring

Titel: Xeelee 3: Ring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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auf halber Strecke zum Horizont –, und dennoch kam es ihr so vor, als ob sie sich direkt in ihrer Mitte befände. Ihre noch unsicheren Füße hinterließen Abdrücke im körnigen, feuchten Sand.
    Sie fand Muscheln, die an einer verfallenen Pier klebten. Sie brach sie mit einer Spielzeugschaufel los und betrachtete fasziniert ihre schleimig tropfenden Füße. Sie schmeckte das Salz in der Luft; es schien in jede Pore ihrer Haut einzudringen.
    Sie saß mit ihren Eltern im Sand und spürte, wie sich ihr leichtes Kleid über dem noch immer wachsenden Körper spannte. Sie spielten ein simples Computerspiel mit Spielsteinen, die auf einem virtuellen Brett bewegt wurden, mit Darstellungen von Leitern und zischenden Schlangen. Sie lachten, wobei ihr Vater zum Spaß herumquengelte, und taten so, als ob sie beim Spielen betrügen wollten.
    Ihre Sinne waren regelrecht elektrisiert. Es war ein wundervoller Tag, voller Licht und Freude und außergewöhnlich intensiver Wahrnehmungen. Ihre Eltern liebten sie – sie spürte es an der Art, wie sie sich bewegten, zu ihr kamen, sie berührten und mit ihr spielten.
    Sie mußten wohl wissen, daß sie anders war; aber es schien sie nicht zu stören.
    Sie wollte nicht anders sein – falsch sein. Sie verbannte ihre Ängste und konzentrierte sich auf die Schlangen, die Leitern und die funkelnden Steine.

    Jeden Morgen wachte sie in einem Bett auf, das zu klein für sie wurde.

    Lieserl mochte den Garten. Sie liebte es, die Blumen zu betrachten, wie sie ihre winzigen, schönen Gesichter auf die Sonne richteten, während das große Licht geduldig über den Himmel kletterte. Das Sonnenlicht ließ die Blumen wachsen, hatte ihr Vater ihr erklärt. Vielleicht war sie selbst wie eine Blume, dachte sie, die in diesem Sonnenlicht zu schnell wuchs.
    Das Anwesen war voller Spielsachen: bunte Bauklötze, Puzzles und Puppen. Sie hob sie auf und drehte sie in ihren sich entwickelnden, wachsenden Händen. Diese Spielsachen wurden ihr schnell langweilig, aber ein kleines Objekt fesselte immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Es war ein kleines Dorf, das sich in einer mit Wasser gefüllten Kugel befand. Es war von winzigen Menschen bevölkert, die mitten in ihren Bewegungen eingefroren zu sein schienen, während sie durch ihre Welt gingen oder liefen. Als sie die Kugel mit ihren unbeholfenen Händen schüttelte, wirbelten Plastikschneeflocken durch die Luft und senkten sich auf die Straßen und Dächer. Sie betrachtete die eingeschlossenen Dörfler und wünschte sich, sie gehörte zu ihnen: eingefroren in der Zeit, befreit von diesem Zwang zu wachsen.
    Am fünften Tag brachte man sie in ein großes, unregelmäßig geschnittenes und von Sonnenlicht durchströmtes Klassenzimmer. Dieser Raum war voller Kinder – anderer Kinder! Sie hockten auf dem Boden und spielten mit Malkästen und Puppen oder sprachen ernsthaft mit leuchtend bunten, virtuellen Figuren – lächelnden Vögeln und winzigen Clowns.
    Die Kinder drehten sich zu ihr um, als sie mit ihrer Mutter hereinkam, mit runden und fröhlichen Gesichtern, wie Punkte aus Sonnenlicht, das durch ein Blätterdach fiel. Noch nie zuvor war sie anderen Kindern so nahe gekommen. Waren diese Kinder etwa auch anders?
    Ein kleines Mädchen schnitt ihr eine Grimasse, und Lieserl umklammerte die Beine ihrer Mutter. Aber die legte nur ihre vertrauten warmen Hände auf ihren Rücken. »Geh weiter. Es ist alles in Ordnung.«
    Als sie in das verzerrte Gesicht des fremden Mädchens blickte, schienen sich Lieserls Fragen, ihre altklugen, konstruierten Zweifel in Luft aufzulösen. Plötzlich zählte nur noch für sie – das einzige, was überhaupt zählte –, daß sie von diesen Kindern akzeptiert wurde – und sie nicht erfuhren, daß sie anders war.
    Ein Erwachsener kam auf sie zu: ein Mann, jung und schlank, mit jugendlichen Gesichtszügen. Er trug einen Overall in einem lächerlichen Orange; im Sonnenlicht nahm sogar sein Kinn noch diese Farbgebung an. Er lächelte sie an. »Du bist doch sicher Lieserl? Ich heiße Paul. Wir freuen uns, daß du hier bist. Stimmt doch, Leute?«
    Die Antwort war ein einstudiertes, konzertiertes »Ja«.
    »Komm mit. Du bekommst jetzt eine Aufgabe«, sagte Paul. Er führte sie über den mit Kindern bedeckten Fußboden zu einer Stelle neben einem kleinen Jungen. Der Junge – rothaarig, mit stahlblauen Augen – betrachtete eine virtuelle Puppe, die sich unablässig neu gestaltete: Figur zwei zerfiel in zwei Schneeflocken, zwei Schwäne, zwei

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