Xeelee 4: Flux
wieder klare Sicht zu bekommen. Dann sah sie, daß es doch keine Explosion gewesen war: im geometrischen Mittelpunkt des Zylinders – im Brennpunkt des Schreckens – befand sich eine weitere Person. Ein dritter Mensch, wo eigentlich gar kein Mensch hätte existieren dürfen…
Bis sie bei näherem Hinsehen erkannte, daß es sich um eine unbekannte Wesenheit handelte, die nur wie ein Mensch aussah. Es war eine korpulente Frau, anscheinend älter als sie, und sie war in etwas gekleidet, das durchaus als Gewand eines Fischers hätte durchgehen können, nur daß die Kutte aus einem rötlich glühenden, anscheinend nahtlosen Material bestand. Das pechschwarze Haar war hinter dem Kopf zusammengebunden. Augen, Nüstern und Mund waren von einem purpurnen Glühen erfüllt.
… Doch dann erkannte sie, daß etwas in diesen Augen war. Sie waren mit Fleisch gefüllt, mit Kugeln, die sich unabhängig vom Gesicht bewegten, wie Tiere, die im Schädel gefangen waren und den Kopf durch die Augenhöhlen steckten.
Sie spürte, wie die Blätter ihr wieder hochkamen; sie wollte schreien und sich mit den Fingern durch die Wand bohren, um diesem Grauen zu entfliehen. Sie hing stocksteif in der Luft und zwang sich, den Blick auf diese Vision zu richten.
»Es sieht aus wie eine Frau«, flüsterte sie Hork zu. »Wie ein Mensch. Aber das ist unmöglich. Wie könnte ein Mensch hier unten überleben? Es gibt weder Luft zum Atmen noch…«
»Offensichtlich ist das auch kein Mensch«, sagte Hork ungeduldig, obwohl seine Stimme vor Furcht zitterte. »Es ist… etwas anderes, das sich nur der menschlichen Gestalt bedient. Ein Feuersack in Menschengestalt.«
»Aber was ist es dann? Was ist es dann?«
»Woher soll ich das denn wissen?«
»Glaubst du, es ist ein Xeelee?«
»Kein Mensch hat jemals einen Xeelee gesehen. Außerdem sind die Xeelee nur Legende.«
Erstaunt stellte sie fest, daß Zorn in ihr aufwallte. Ausgerechnet jetzt ärgerte sie sich über seine herablassende Art. »Legenden waren schließlich der Grund, weshalb du mich mitgenommen hast, weißt du noch?« zischte sie und funkelte ihn zornig an.
Der Vorsitzende von Parz City warf ihr einen aufgebrachten Blick zu und wandte sich der Gestalt zu. »Du«, sagte er mit einer Festigkeit in der Stimme, die Dura Bewunderung abnötigte. »Du Eindringling. Was willst du von uns?«
Das nur vom Schnaufen der Schweine unterbrochene Schweigen dauerte an; Dura betrachtete die häßlichen Klappen, welche die Ohrmuscheln der Frau bedeckten und fragte sich, ob sie Hork überhaupt hören, geschweige denn ihm antworten konnte.
Doch die Frau öffnete den Mund. Licht entströmte dem Mund, und ein unidentifizierbares Geräusch ertönte – tiefer als jeder Ton, welcher der Brust eines Menschen entsteigen konnte.
Doch dann hörte Dura, wie Worte sich formten.
Ich… Wir haben euch schon erwartet. Ihr habt euch aber reichlich Zeit gelassen. Und wir mußten uns höllisch anstrengen, um euch überhaupt zu finden. Der Blick ihrer gespenstischen Augen schweifte durch das ›Schwein‹, wobei der Hals wie ein Kardangelenk pendelte. Zu mehr hat es nicht gereicht? Ihr müßt noch viel tiefer absteigen; die Übertragung ist lausig…
Hork und Dura schauten sich erstaunt an.
»Verstehst du mich?« fragte er das Ding. »Bist du ein Kolonist?«
»Natürlich versteht es dich, Hork«, zischte Dura. Die Faszination verdrängte nun die Angst vor diesem Hautsack. »Wie kommt es, daß du unsere Sprache sprichst?«
Das Ding führte Mundbewegungen aus, die eine frappierende Ähnlichkeit mit denen eines Luft-Schweins hatten, und die Fleischkugeln in den Augenhöhlen rollten; je länger Dura dieses Frauending betrachtete, desto weniger menschlich wirkte sie. Ihr wurde bewußt, daß es sich nur um die Marionette eines fremden hyperonischen Wesens außerhalb des Schiffs handelte; unwillkürlich sah sie aus dem Fenster und hielt Ausschau nach riesigen, dunklen Augen, die vielleicht auf sie gerichtet waren.
Das Frauending lächelte. Es war eine gespenstische Parodie.
Natürlich verstehe ich euch. Ich bin das, was ihr als Kolonist bezeichnet… aber ich bin auch eure Großmutter. Zumindest die erste oder zweite Ableitung…
Eine Woche vor dem Tag der Spiele erhielt Adda von Muub die Einladung, die Spiele in der Loge des Komitees hoch über dem Stadion zu verfolgen. Adda spürte die Herablassung, die hinter dieser Offerte stand: er zweifelte nämlich nicht daran, daß er in Muubs Augen nach wie vor ein exotischer
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