Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
bewachsenen Abhang nach Hause gerannt.
Sie folgte Lantil in seiner Spur, während er zwischen den Tipis hindurchschlurfte. »Wenn die Welt und die Schale Kugeln sind, was trennt sie dann voneinander?« Vielleicht wurden sie von riesigen Säulen hinterm Horizont getragen…
Lantil strich sich eine Strähne schmutzigen schwarzen Haars aus dem Gesicht. »Ist doch egal.«
Sie stampfte auf den Boden. »Ich will’s aber wissen.«
Ihr Großvater seufzte. »Na schön.« Er kniete neben Allel nieder und ballte die gichtigen Finger zur Faust. »Das ist die Welt, Heimat. Sie ist rund wie eine Kugel.« Er legte die andere Hand um die Faust. »Und das ist die Schale. Sie ist eine Hohlkugel, die Heimat umschließt.« Nun öffnete er die Faust und führte mit kreisenden Bewegungen einen Finger in die hohle Hand ein. »Die Sonne bewegt sich durch die Lücke und gibt uns Tag und Nacht, Sommer und Winter.«
Allel nickte ungeduldig. »Das weiß ich schon. Aber wer hat das alles erschaffen?«
»Leute natürlich.« Er richtete sich auf und massierte sich den Rücken. »Um Ungeheuer mit dem Namen ›Xeelee‹ fern zu halten.«
Allel bekam große Augen und stellte sich vor, wie Riesen auf der Schale herumtrampelten und mit der Faust gegen Meeresböden und Baumwurzeln hämmerten.
»Nun muss ich aber weitermachen«, sagte Lantil barsch. »Geh, Kind. Geh…« Grantig machte er sich wieder an die Arbeit.
Allel rannte davon und freute sich, dass sie wieder ein bisschen schlauer war. In der Phantasie flog sie hinauf zu einem Land mit der Form einer Untertasse, wo eine Welt am Himmel hing, eine mit Gestein und Bäumen gepflasterte Kugel.
* * *
Am nächsten Tag stand sie bereits im Morgengrauen auf. Sie schlug die Rindenklappe des Tipis zurück, und die Kälte vertrieb den nächtlichen Mief aus dem Tipi. Schlotternd ging sie zu einem Kuh-Baum und sog eiskalte Milch aus einer Zitze.
Seit die Krieger abgerückt waren, lag eine gedrückte Stimmung über dem Dorf. Eine Gruppe alter Leute und Kinder hatte sich schon an die Arbeit gemacht, um den wertvollen Sommertag bis zur Neige auszukosten. Sie schälten eine hauchdünne frische Schicht tuchartiger Rinde von einem der Kuh-Bäume. Allel warf einen verstohlenen Blick auf die Schale. Der Morgen-Terminator, der sich als grauer Balken von einem Horizont zum andern zog, wanderte westwärts. Im Nachtland hinter dem Horizont stoben Funken: Feuer, die anzeigten, dass Leute auf der Schale lebten – wie Fliegen an dieser weiten Decke klebten.
Sie hatte eine Rindentasche aus dem Tipi mitgenommen. Die hängte sie sich nun um die Schulter und eilte auf dem holprigen Weg zu Hafen’s Hill. Vom Gipfel sah sie im Süden das schimmernde Band des Flusses Atad. Die Brücke wirkte wie ein robustes Spielzeug; sie war eines der wenigen alten Bauwerke, die noch nicht vom Eis verschluckt worden waren. Rauch verhüllte die Szene. Sie fragte sich, ob das ein gutes Zeichen war.
Dann machte sie sich an die Arbeit und vergaß darüber die entfernte Schlacht. Sie öffnete die Tasche und holte eine kleine Lampe heraus, eine Kalebasse, die mit Alkohol gefüllt war, den man aus der fermentierten Frucht des Kuh-Baums gewann. Dann schnitt sie mit dem großen Steinmesser, das sie von ihrem Großvater bekommen hatte, einen Docht zurecht und zündete ihn mit einem Feuerstein an. Der Docht rollte sich knisternd zusammen, und schwarzer Rauch stieg in die kalte Luft. Nun öffnete sie einen kleinen kugeligen Beutel und hielt den schmalen Hals über die Flamme. Bald waren die Finger mit Lampenruß bedeckt…
…und der primitive Ballon blähte sich auf und erhob sich ein paar Fuß in die Luft. Dann drehte er sich und fiel auf den Boden. Allel schaute mit gebleckten Zähnen zur Schale, als ob sie bereits ihr gehörte. Ihr Herz schlug so heftig wie das des verirrten Vogels. Wenn sie ein etwas größeres Gewicht an der Öffnung befestigte…
Eine Sandale fuhr herab und zertrat den Ballon. Die Rinde der Sandale war mit Blut und Staub verkrustet.
»Steh auf!« Boyd spie die Worte förmlich aus; Blut tropfte aus einer neuen Wunde über dem Auge.
Allel sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Ihr Zorn prallte auf die Verachtung ihrer Mutter. Außer den Narben, die sie sich im Kampf zugezogen hatte, sah man Boyd ihr Alter nicht an. Mutter und Tochter standen sich wie Zwillinge gegenüber, Bilder in einem dunklen Spiegel.
»Der Angriff auf die Brücke ist fehlgeschlagen«, stieß Boyd hervor. »Die verdammten Bastarde, die sie
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