Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
verblüfft auf die Rückwand der Kammer, die mindestens hundert Schritte entfernt war. Sie taumelte zurück und landete im Schnee, der sofort die dünne Hose durchnässte. Boyd lachte – aber nicht unfreundlich – und half ihr auf die Füße. »Eine große Halle, die in eine kleine Hütte gestopft ist. Die Leute, die das hier erbaut haben, besaßen eine Macht, die du dir nie hättest träumen lassen, was?«
Allel stolperte um das kleine Gebäude herum. Wo war der ganze Raum denn untergebracht? Wenn nicht seitlich – oder dahinter – oder oben oder unten –, dann musste es noch eine vierte Richtung geben? Diese Frage brannte sich ihr ins Gehirn ein.
Der Boden war leer, doch die papierdünnen Wände waren mit Bildern bedeckt, die nach unzähligen Generationen noch immer leuchteten und sich bewegten. »Die Bilder erzählen unsre Geschichte«, knurrte Boyd mürrisch. »Sie künden von unserem Aufstieg und Niedergang.« Sie stampfte auf den Boden, um den Schnee von den Sandalen zu schütteln, und ging an der Wand entlang. Hinterher sagte Allel sich, dass sie genauso gut in die andere Richtung hätten gehen können und dennoch die Aussage der Bilder verstanden hätten: Die Geschichte der Menschheit wies nämlich einen symmetrischen Verlauf auf.
Die helle Seite der Symmetrie war Expansion. Von einer Welt ohne eine Schale schwärmten winzige Schiffe mit einem Hyperdrive wie stromlinienförmige Fische zu den Sternen aus…
»Was ist ›Hyperdrive‹? Was sind ›Sterne‹?«
Das waren nur Worte, sagte Boyd, die andere Mütter zu anderen Zeiten weitergegeben hätten. Allel fragte sich, ob ihr Ballon auch mit einem Hyperdrive aufgestiegen war. Sie schaute sich die Schiffe genau an, sah aber keinen Hinweis auf Brenner. Sie wollte das Bild berühren…
…und die Hand durchstieß die immaterielle Wand in einer Richtung, die sie nicht zu bestimmen vermochte. Sie betastete ein Schiffsmodell, das einer Nuss glich, die an einem unsichtbaren Faden hing. Die Sache wurde immer mysteriöser…
Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung war die Menschheit Herrin über viele Sterne gewesen – die offensichtlich über ein weites Gebiet verstreut waren. Und dann…
»Und dann trafen wir auf die Xeelee«, sagte Boyd, und sie betrachteten eine grausame Schlachtenszene. Virtuelle Finger griffen nach den kleinen Schiffen. »Wer auch immer sie waren, sie waren eine Nummer zu groß für uns.«
Nach den Xeelee-Kriegen mussten die Menschen die eroberten Sterne einen nach dem andern aufgeben und sich unter dem Druck der nachsetzenden Xeelee zur Heimatwelt zurückziehen.
Sie kamen zu den letzten beiden Kollagen. »Schließlich kehrten wir zur Heimat zurück und verwandelten sie in eine uneinnehmbare Festung gegen die Xeelee«, sagte Boyd. Das erste Bild zeigte eine blaue Sphäre mit großen braunen Polkappen. Aufs zentrale hellblaue Band waren Wolken und eine kleine Sonne gemalt, die blinkend über den Äquator zog. Die Ränder der Polkappen zeigten eine Fülle von Details: Seitenansichten von Pflanzen und Menschen in einer Perspektive, in der die Wolken ›oben‹ und die Pole ›unten‹ waren. »Das hier verstehe ich nicht«, gestand Boyd. »Vielleicht handelt es sich um einen Bauabschnitt der Schale. Dies hier zeigt aber die Welt, wie sie heute ist.« Die letzte Darstellung war ein primitiver Umriss an der Wand, ohne Tiefe und Animation. Sie zeigte eine Kugel mit einer Schale darum. Allel zupfte an abblätternder Farbe. Boyd hüstelte verlegen. »Weißt du nun, weshalb ich dich mitgenommen habe?«
Allel inspizierte den Farbstaub. »Das ist nur gefärbte Kuh-Baum-Milch. Dieses letzte Bild muss erst sehr viel später dazugekommen sein…«
Boyd fluchte. Sie spie auf den Boden und stapfte hinaus.
… Also, sagte Allel sich aufgeregt, glich die Welt eher dem anderen Bild mit der blauen Sphäre. Doch was hatte das zu bedeuten? Jeder wusste doch, dass die Welt von einer Schale umgeben wurde – sie war ja nicht zu übersehen…
Jetzt erst merkte sie, dass ihre Mutter verschwunden war. Fluchend stürzte sie nach draußen.
Boyd stand ein paar Schritte von der Tür entfernt und hatte die Fäuste geballt. Schneeflocken stoben um ihre Beine. »Ich frage dich noch mal. Was glaubst du, weshalb ich dich hierher gebracht habe?«
Allel versuchte sich auf die Frage zu konzentrieren. »Um mir diesen Ort zu zeigen? Seine Geschichte zu erzählen?«
»Ja!« Der Schnee dämpfte Boyds Schrei. »Einst erschufen wir die ganze Welt neu, und heute sind wir
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