Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
voraus, und die Erwachsenen folgten ihnen. Erwal spielte erst mit dem Gedanken, sie zur Vorsicht zu mahnen, doch dann ließ sie es bleiben. Welche Vorsichtsmaßnahmen hätte sie auch ergreifen sollen, fragte sie sich mit einem Anflug von Belustigung. Entweder würden die Acht Kammern ihnen das Leben retten… oder sie würden umkehren und versuchen müssen, das Dorf zu erreichen, bevor der Winter mit voller Härte hereinbrach und die Kälte den erschöpften Menschen endgültig den Garaus machte.
Wie man es auch drehte und wendete, es hatte wenig Sinn, besondere Vorsicht walten zu lassen. Steif stakste Erwal durch den Schnee zu den Acht Kammern.
Die Kinder gingen bereits durch eine offene Tür ein und aus. Erwal hielt in respektvoller Entfernung vom Bauwerk inne und studierte es gründlich. Sie erinnerte sich, wie Teal den Schock beschrieben hatte, als er das Gebäude einen Fuß hoch in der Luft schweben sah; und als sie sich vorbeugte, sah sie einen schneebedeckten Geländestreifen unter den Kammern. Sie runzelte die Stirn und wunderte sich über die Gelassenheit, mit der sie reagiert hatte. Das war auch kein Wunder. Jedes Kind wusste nämlich aus Erzählungen, wie mächtig die Alten gewesen waren und dass sie sogar die Welt erschaffen hatten, in der die Menschen lebten; wieso sollte ein in der Luft schwebender Kasten also eine solche Überraschung sein?
Sie seufzte. Vielleicht fehlte es ihr nur an Phantasie. Im Geschwindschritt näherte sie sich den Kammern, verhielt kurz am Eingang und trat über die knöchelhohe Schwelle…
…und wäre beinahe ohnmächtig geworden, als sie gegen eine Wand aus warmer stehender Luft lief. Sie spürte, wie das Blut ihr ins Gesicht schoss. Halt suchend streckte sie die Hand nach der Wand aus – und zog erschrocken die Finger zurück. Das Material der Wand war warm und weich wie Fleisch. Arke kam zu ihr und strich mit der schwieligen Hand über die Wand. »Das ist wirklich bemerkenswert. Vielleicht ist das ganze Gebäude ein lebendiges Wesen.«
»Ja.« Nachdem sie sich gefangen hatte, inspizierte sie die Kammer. In jede der vier Wände sowie in Boden und Decke war eine lukenartige Tür eingelassen; durch die Türen sah sie, wie die Leute in den anderen Kammern die Wände berührten. Ihre Gesichter waren ausdruckslos. »Das ist sehr fremdartig…«
… Moment mal. Eine Kammer hinter jeder Tür? Dabei war diese Kammer schon groß genug, um den Würfel auszufüllen, den sie von draußen gesehen hatte. Hinter den Türen dürfte es eigentlich nur Schnee beziehungsweise den freien Himmel geben…
Und doch waren Kammern, wo es eigentlich gar keinen Platz für sie gab.
Vage erinnerte sie sich an Teals Beschreibungen, wonach die Kammern verschachtelt waren, und sie versuchte, sich das vorzustellen. Dann seufzte sie und gab es auf, das Geheimnis des gefalteten Orts lösen zu wollen. Wenn die Kinder schon keine Probleme damit hatten, wieso sollte sie sich dann den Kopf zerbrechen.
»Erwal, wir haben schon viel erreicht, selbst wenn wir nicht weitergehen«, sagte Arke. »Wir haben es warm und trocken und die Mummy-Kuh als Nahrungsreserve. Wir könnten doch hier bleiben, die Mummy-Kuh reinholen und den Kindern eine…«
»Deshalb sind wir aber nicht hergekommen«, sagte sie mit einer Aufwallung von Ungeduld. »Teal ist weitergegangen.« Sie schaute auf und erinnerte sich an Teals Bericht, wie er durch die Dachluke geklettert war. »Komm schon«, sagte sie zu Arke. »Hilf mir rauf.«
Arke ließ es geschehen, dass sie ihm auf die Schultern kletterte. Andere, die schon in der oberen Kammer waren, zogen sie durch die Luke.
Die obere Kammer war wie die erste und wurde von Licht erfüllt, das aus dem Nichts zu kommen schien. Ein paar Erwachsene standen verloren herum. Wortlos richtete sie sich auf. Sie versuchte im Geiste den Weg nachzuzeichnen, den Teal eingeschlagen hatte. Von der Luke im Boden geradeaus weitergehen, hatte er gesagt, und die Tür aufstoßen…
Hinter der Tür war die Achte Kammer. Architektonisch glich sie den anderen Kammern, doch die Wände waren klar, als ob sie aus Eis bestünden.
Jenseits der Wände war ein schwarzer, mit winzigen Lichtern gesprenkelter Himmel.
Ein Leichnam lag auf dem Kristallboden.
Arke trat neben Erwal. »Sind das ›Sterne‹?«
»Das ist das Wort, das Teal uns genannt hat«, sagte sie schaudernd.
»Und das…« Er zeigte geradeaus; hinter der Rückwand trieb ein Objekt wie ein großer schwarzer Samenbehälter in der Leere. »Glaubst du,
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