Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
jetzt konzipierte sie komplexe Spiele, unterteilte das Brett durch willkürlich gezogene Grenzen aus glühendem Licht in Länder und Reiche. Bei der schematischen Rekonstruktion der großen Ereignisse der Menschheitsgeschichte stießen Armeen aus Leitern auf Legionen von Schlangen.
Sie schaute zu, wie die Symbole über das virtuelle Brett flackerten, aufleuchteten und verschmolzen; sie entwarf ausführliche Chroniken der Geschichte ihrer imaginären Länder.
Am Ende des Tages begann sie sich indessen mehr für die historischen Texte selbst zu interessieren als für ihre Interpretation. Sie ging zu Bett und konnte es kaum erwarten, dass der nächste Tag anbrach.
Sie erwachte im Dunklen, verkrampft vor Angst.
Sie forderte Licht an, das ohne eine erkennbare Quelle den Raum durchflutete. Sie setzte sich im Bett auf.
Die Bezüge waren blutbefleckt. Sie schrie auf.
Phillida setzte sich zu ihr und wiegte ihren Kopf. Lieserl schmiegte sich an die Wärme ihrer Mutter und versuchte, das Zittern zu unterdrücken.
»Ich glaube, es ist Zeit, dass du mir deine Fragen stellst.«
Lieserl schniefte. »Welche Fragen?«
»Die Fragen, die du seit dem Augenblick deiner Geburt mit dir herumträgst.« Phillida lächelte. »Ich sah es in deinen Augen, schon in jenem Moment. Du armes Ding… mit so viel Bewusstsein belastet zu sein. Es tut mir leid, Lieserl.«
Lieserl rückte von ihr ab. Plötzlich verspürte sie Kälte und Verletzlichkeit.
»Sag mir, warum es dir leid tut«, verlangte sie zu wissen.
»Du bist meine Tochter.« Phillida legte die Hände auf Lieserls Schultern und kam mit dem Gesicht dicht an sie heran; Lieserl spürte ihren warmen Atem, und das weiche Licht des Zimmers betonte das Grau im blonden Haar ihrer Mutter und verlieh ihm den Anschein eines Leuchtens. »Vergiss das nie. Du bist so menschlich, wie ich es bin. Aber…« Sie zögerte.
»Aber was?«
»Aber du wirst – gebaut.«
Phillida sagte, dass Nanobots durch Lieserls Körper schwärmten und die Entstehung neuer Zellen und Kraftzuwachs stimulierten – sie ließen ihren Körper wie eine absurde menschliche Sonnenblume erblühen – sie implantierten sogar Erinnerungen und synthetische Lerninhalte direkt in ihren Kortex.
Lieserl war versucht, die Haut aufzukratzen und diese künstliche Infektion zu beseitigen. »Warum? Warum habt ihr zugelassen, dass so etwas mit mir geschieht?«
Phillida rückte dicht zu ihr auf, aber Lieserl blieb steif und sträubte sich. Phillida vergrub das Gesicht in Lieserls Haar; Lieserl spürte das leichte Gewicht der Wange ihrer Mutter auf dem Kopf. »Noch nicht«, sagte Phillida. »Noch nicht. Noch ein paar Tage, mein Liebes. Das ist alles…«
Phillidas Wangen wurden feucht, als ob sie leise in das Haar ihrer Tochter weinte.
Lieserl kehrte zu dem Brettspiel mit den Schlangen und Leitern zurück. Ihr wurde bewusst, dass sie ihr Werk mit Freude, aber auch mit einer nostalgischen Traurigkeit betrachtete; sie distanzierte sich emotional von dieser ausgeklügelten, leicht obsessiven Kreation.
Sie war bereits zu alt dafür.
Sie ging in die Mitte des funkelnden Brettes und ließ eine dreißig Zentimeter durchmessende Sonne aus dem Zentrum ihres Körpers entstehen. Licht überflutete das Brett und zerbrach es.
Sie war indessen nicht die einzige Erwachsene, die solche Phantasiewelten erschaffen hatte. Sie erfuhr von den Brontes, die zurückgezogen im Norden Englands in einer gemeinsamen Welt aus Königen und Prinzen und Reichen gelebt hatten. Und sie informierte sich über die Herkunft des simplen Spiels der Schlangen und Leitern. Es stammte aus Indien, wo es als pädagogisch wertvolle Lernhilfe mit der Bezeichnung Moksha-Patamu entwickelt worden war. Es basierte auf zwölf Sünden und vier Tugenden, und das Ziel war das Eingehen ins Nirwana. Man konnte auf jeden Fall eher verlieren als gewinnen… Die Briten hatten es im neunzehnten Jahrhundert zu einem ›Knigge‹ für Kinder mit der Bezeichnung Kismet modifiziert. Lieserl starrte auf die Abbildungen klaustrophobischer Bretter und unheimlicher Schlangen. Dreizehn Schlangen und acht Leitern demonstrierten den Kindern, dass sie, wenn sie artig und folgsam wären, ein gutes Leben erwarten konnten.
Aber schon nach wenigen Jahrzehnten hatte das Spiel seine moralische Konnotation verloren. Lieserl stieß auf Bilder aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die einen traurig dreinblickenden Clown zeigten; er rutschte hilflos an Schlangen hinab und kletterte tapfer Leitern
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