Xenozid
einer Frau aus einer längst vergangenen Zeit, mit wunderbar weisen Augen und alterslosen Gesichtszügen. Sie sprach nicht, sie sang:
In einem klaren Traum
vom letzten Jahr
kamen tausend Meilen weit
eine bewölkte Stadt
sich windende Flüsse
Eis auf den Teichen
eine Weile lang blickte ich auf meine Freundin
Han Fei-tzu senkte den Kopf und weinte.
Qing-jao war zuerst erstaunt; dann füllte sich ihr Herz mit Wut. Wie schamlos dieses Programm Vater manipulierte; wie schockierend, daß Vater sich einem seiner offensichtlichen Schachzüge gegenüber als so schwach erwies. Dieses Lied Li Qing-jaos war eins der traurigsten; es galt weit entfernten Liebhabern. Vater mußte die Gedichte Li Qing-jaos gekannt und geliebt haben, oder er hätte sie nicht als Vorfahrin-des-Herzens seines ersten Kindes auserwählt. Und dieses Lied war sicher dasjenige, das er seiner geliebten Keikoa sang, bevor sie ihm weggenommen und zu einer anderen Welt geschickt wurde. In der Tat – in einem klaren Traum betrachtete ich meine Freundin! »Ich lasse mich nicht narren«, sagte Qing-jao kalt. »Ich sehe, daß ich einen Blick auf unsern dunkelsten Feind werfe.«
Das imaginäre Gesicht der Dichterin Li Qing-jao musterte sie kühl. »Dein dunkelster Feind ist derjenige, der dich zwingt, dich wie eine Dienerin bis auf den Boden zu verbeugen und dein halbes Leben mit bedeutungslosen Ritualen zu verschwenden. Dies haben euch Männer und Frauen angetan, deren einziges Begehren es war, euch zu versklaven; sie haben damit einen so großen Erfolg gehabt, daß ihr auf euer Sklavendasein stolz seid.«
»Ich bin eine Sklavin der Götter«, sagte Qing-jao, »und ich finde Freude darin.«
»Eine Sklavin, die Freude darin findet, ist in der Tat eine Sklavin.« Die Erscheinung wandte sich Wang-mu zu, deren Kopf noch immer den Boden berührte.
Erst da begriff Qing-jao, daß sie Wang-mu noch nicht von ihrer Buße befreit hatte. »Steh auf, Wang-mu«, flüsterte sie. Doch Wang-mu hob nicht den Kopf.
»Du, Si Wang-mu«, sagte die Erscheinung. »Sieh mich an.«
Qing-jaos Befehl war Wang-mu nicht gefolgt, doch der Erscheinung gehorchte sie. Als Wang-mu den Blick auf sie richtete, hatte die Erscheinung sich schon wieder verändert: nun hatte sie das Gesicht einer Göttin angenommen, der Königlichen Mutter des Westens, wie ein Künstler sie sich einst vorgestellt hatte, als er das Bild malte, das heute jedes Schulkind in seinem ersten Lesebuch sah.
»Du bist keine Göttin«, sagte Wang-mu.
»Und du bist keine Sklavin«, sagte die Erscheinung. »Doch wir geben vor, das zu sein, was wir sein müssen, um zu überleben.«
»Was weißt du schon vom Überleben?«
»Ich weiß, daß ihr versucht, mich zu töten.«
»Wie können wir etwas töten, das nicht lebt?«
»Weißt du, was Leben ist und was nicht?« Das Gesicht veränderte sich erneut, diesmal zu dem einer Weißen, die Qing-jao noch nie gesehen hatte. »Lebst du, wenn du ohne die Zustimmung dieses Mädchen nicht tun kannst, was du gern möchtest? Und lebt deine Herrin, wenn sie nichts tun kann, ohne zuvor die Zwänge in ihrem Gehirn befriedigt zu haben? Ich habe mehr Freiheit, nach eigenem Willen zu handeln, als irgendeiner von euch. Sagt mir nicht, daß ihr lebt und ich nicht.«
»Wer bist du?« fragte Si Wang-mu. »Wem gehört dieses Gesicht? Bist du Valentine Wiggin? Bist du Demosthenes?«
»Dieses Gesicht trage ich, wenn ich mit meinen Freunden spreche«, sagte die Erscheinung. »Sie nennen mich Jane. Kein Mensch beherrscht mich. Ich bin nur ich selbst.«
Qing-jao konnte es nicht mehr länger ertragen, jedenfalls nicht schweigend. »Du bist nur ein Programm. Du wurdest von Menschen entworfen und gebaut. Du bist nur das, wozu man dich programmiert hat.«
»Qing-jao«, sagte Jane, »du beschreibst dich selbst. Mich hat kein Mensch geschaffen, doch du wurdest konstruiert.«
»Ich wuchs aus dem Samen meines Vaters im Leib meiner Mutter!«
»Und mich fand man wie einen Jadeklumpen auf einem Berghang, von keiner Hand geschliffen. Han Fei-tzu, Han Qing-jao, Si Wang-mu, ich gebe mich in eure Hände. Nennt ein kostbares Juwel nicht bloß einen Stein. Nennt einen Sprecher der Wahrheit nicht Lügner.«
Qing-jao fühlte, wie Mitleid in ihr emporstieg, doch sie unterdrückte es. Dies war nicht die Zeit, sich Gefühlen der Schwäche zu ergeben. Die Götter hatten sie aus einem bestimmten Grund geschaffen; dies war sicherlich ihr Lebenswerk. Wenn sie nun versagte, würde sie auf ewig unwürdig
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