Yelena und die verlorenen Seelen - Snyder, M: Yelena und die verlorenen Seelen
verdrängte. „Warum sollte er gestern zurückkommen?“
„Da war ein weiteres Clan-Treffen angesetzt. Die Tiere im Dschungel waren unruhig und verstört, und wir können uns nicht vorstellen, aus welchem Grund. Als die beiden Spurensucher nicht zurückkamen, beschloss die Sippe, dass alle in der Nähe unserer Heimstatt bleiben sollten. Jeden Abend treffen wir uns im Aufenthaltsraum, um sicherzugehen, dass niemandem etwas passiert. Esau wollte nur ein paar Stunden fortbleiben.“ Noch mehr Tränen liefen ihr über die Wangen.
In ihrem Gesicht zeichneten sich die Angst und Sorgen der vergangenen Stunden ab. Ihr langes Haar war mittlerweile mehr grau als schwarz. Ich konnte sie unmöglich allein lassen, obwohl ich hätte losziehen müssen, um weitere Auskünfte einzuholen.
„Ich muss mit den Sippenältesten sprechen“, erklärte ich. „Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Aber du musst mir versprechen, dich nicht aufzuregen.“
Sie versprach es, doch an ihrer Miene erkannte ich, dass sie sich keineswegs beruhigte. Mit der Hand fasste sie sich an die Kehle. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihr den Vorschlag zu machen, mich zu begleiten. Ob Nutty ihr Gesellschaft leisten konnte?
Unvermittelt erstarrte Perl, als sei ihr soeben etwas eingefallen. „Warte“, befahl sie und eilte zum Lift.
Sie zog an den Seilen und fuhr in den zweiten Stock der Wohnung hinauf. Das Herz wurde mir schwer. Esau hatte diesen Lift erfunden. Mithilfe von Kletterpflanzen aus dem Urwald hatte er einen Flaschenzug konstruiert. Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ihm etwas zustoßen sollte.
Vor lauter Panik wurde ich ganz nervös, und gerade als ich Perl zurufen wollte, sie solle sich beeilen, setzte sich der Aufzug in Bewegung. Meine Mutter hatte sich Wasser ins Gesicht gespritzt und ihr Haar nach hinten gebunden. Außerdem trug sie mein Feueramulett um den Hals. Ich musste lächeln.
„Das gibt mir Kraft“, erklärte sie, als sich unsere Blicke trafen. Jetzt wirkte sie nur noch wild entschlossen. „Gehen wir.“
Auf dem Weg zum Versammlungsraum dachte ich über das Feueramulett nach. Bei einem Feuerfestival in Ixia hatte ich einen Akrobatik-Wettbewerb gewonnen und auf diese Weise einen Moment überschäumender Freude inmitten der Hölle erlebt. Reyad, einer der Männer, die mich gefangen genommen und der erste, den ich getötet hatte, hatte mir natürlich verboten, an dem Wettkampf teilzunehmen. Für meinen Ungehorsam wurde ich schwer bestraft, aber ich hätte es jederzeit wieder getan. Inzwischen wusste ich, dass ich meinen unbeugsamen Willen von meinen Eltern geerbt hatte, sodass selbst Mogkans und Reyads andauernde Überwachung mich nicht von meiner Absicht hatten abbringen können.
Unser Sippenname lautete Zaltana, aber die Familie hieß Liana, was in der alten Sprache von Illiais „Kletterpflanze“ bedeutete. Diese Pflanzen wuchsen überall im Urwald und rankten sich an Bäumen empor auf der Suche nach der Sonne. Die Pflanzen waren so kräftig, dass sie die Bäume manchmal sogar entwurzelten. Wenn man sie abschnitt und trocknete, wurden die Schlingpflanzen steinhart.
Die entschlossene Haltung meiner Mutter verriet mir, dass sie den Punkt erreicht hatte, an dem sie sich nicht länger von ihren Gefühlen leiten lassen, sondern alle Hebel in Bewegung setzen wollte, um ihren Mann zu finden.
Das Gemeinschaftszimmer war der größte Raum innerhalb der Heimstatt. Der runde Saal mit einer steinernen Feuergrube in der Mitte war weitläufig genug, um der gesamten Sippe Platz zu bieten. Grauschwarze Aschenflocken tanzten im Sonnenlicht und schwebten hinauf zum Rauchloch in der Holzdecke. Bänke aus Ästen und gehärteten Kletterpflanzen waren um die Grube herum aufgestellt. Der Geruch von zahlreichen Parfümsorten lag in der Luft, und ich erinnerte mich an jenen Moment, als ich zum ersten Mal hier stand.
Damals hatte sich der gesamte Clan versammelt. Alle waren neugierig, das – aus ihrer Perspektive – von den Toten zurückgekehrte verlorene Kind wiederzusehen. Sie hatten mich mit einer Mischung aus Hoffnung, Freude und Misstrauen gemustert. Meine Hoffnungen auf ein angenehmes Wiedersehen wurden jedoch zunichtegemacht, als mein Bruder der Runde verkündete, dass ich nach Blut stinke.
Chestnut unterbrach meine Erinnerungen, indem er mich den Sippenältesten vorstellte. „Oran Cinchona Zaltana und Violet Rambutan Zaltana.“
Sie verbeugten sich förmlich, wie es in Sitia üblich war. Sorgenfalten
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