Yofi oder Die Kunst des Verzeihens – Ein Nashorn lernt meditieren
zu bleiben.
Meru war fasziniert, als würde er das erste Mal ein Neugeborenes sehen. Vorsichtig näherte er sich der Mutter, der man Glück und Erschöpfung ansah, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lächelte und nickte. Es war still geworden. Alle schwiegen. Meru sah das hornlose Kälbchen einfach an. Es bekam etwas Angst, suchte den Blick seiner Mutter und schaute dann wieder zu dem fremden Nashorn. Merus Augen strahlten. Nach einiger Zeit verneigte er sich vor dem Baby, als wolle er sich bedanken.
»Dieses Wunder ist immer wieder herzerfrischend. Wer weiß, ob ich das noch einmal erlebe.«
Am Nachmittag kamen sie erneut an einen Fluss. Yofi stürzte hinein und labte sich, als nähme er das erste Bad seines Lebens.
»Ich will auf die andere Seite.«
Er hielt die Luft an und tauchte.
»Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht«, prustete er am anderen Ufer.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen«, begann der Großvater, als sie im Schatten eines Leberwurstbaumes verschnauften. »Sie handelt von einem jungen, ungestümen Nashorn namens Meru: Früher lebte ich, so wie du, am Fuße des Hohen Berges. In jener Zeit war ich oft mürrisch – meistens bereits beim Aufwachen.
Wenn das einmal nicht der Fall war, sollte ich mich also ausnahmsweise mit einem Lächeln aus der Schlafkuhle gerappelt haben, dann gab ich mir alle Mühe, übelgelaunt zu werden. Es gelang mir jedes Mal – spätestens bis zum Mittag. Ich fand immer jemanden, auf den ich zornig sein konnte: die lärmenden Affen, die Zebras, das Wetter. Meistens musste dafür meine Mutter herhalten.«
Yofi fragte verwundert:
»Deine Mutter hat am Hohen Berg gelebt?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte einen Weg gefunden, trotzdem wütend auf sie zu werden. Ich stellte sie mir einfach vor: ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Gesten. Das reichte, um den ganzen Tag voller Groll zu sein.«
»Was hat sie dir getan?«
»Als Kind hatte ich das Gefühl, dass sie sich zu wenig um mich kümmerte. Aesha wurde sehr jung meine Mutter. Es war die Zeit der großen Buschbrände. Viele Nashorngebiete verbrannten. Meine Mutter war oft erschöpft und gereizt. Deshalb konnte sie mir häufig nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Manchmal schlug sie mich sogar mit dem Horn, wenn sie ihre Ruhe wollte.«
»Dann verstehe ich, dass du sauer auf sie warst«, unterbrach Yofi.
»Ich verstehe mich ja auch. Nur: Als ich alleine am Hohen Berg lebte und vor mich hin wütete, war das alles schon längst vorbei. Ich war kein Kind mehr. Trotzdem pflegte ich meinen Zorn. In Gedanken beschimpfte ich meine Mutter Tag für Tag. Glaub mir, ich kannte alle Schimpfworte, die es damals gab. Ich wurde immer wütender. Natürlich wusste ich nicht, dass ich mir den ganzen Groll selbst braute. Das machte ich sogar noch, als ich bereits zum Meer unterwegs war. Erst kurz bevor ich es erreichte, klang mein Ärger ab.«
»Wie?«
»Durch eine wichtige Entdeckung, die ich gemacht habe: Jede Erinnerung gleicht einer Fata Morgana.«
»So wie in der Wüste?«, fragte Yofi überrascht.
»Ja, wie in der Wüste. Ein Trugbild zeigt etwas weit Entferntes so, dass du glaubst, es sei ganz nahe. Die Erinnerung zeigt Bilder aus einer Zeit, die vorbei ist. Meine Gedanken wussten natürlich, dass ich längst erwachsen war und meine Mutter mich nicht mehr verletzen konnte. Aber Bilder sind stärker als Gedanken ...«
»Das verstehe ich nicht.«
»Bilder wirken direkt ins Herz. Wenn das Herz etwas sieht, ist es davon überzeugt, dass es gegenwärtig stattfindet.«
»Auch wenn die Bilder sehr alt sind?«
»Das Herz kennt keine Zeit. Es lebt immer jetzt. Das ist sein wichtigster Augenblick. Genau genommen: der einzige, der ihm vertraut ist. Es weiß nicht einmal, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt.«
Am Abend lagen sie in einem Akazienhain und lauschten dem Konzert der Kröten.
Meru fragte:
»Bist du bereit, etwas auszuprobieren? Es ist angenehm.«
»Dann gerne.«
»Schließ die Augen und denk an das schönste Nashornweibchen der Welt.«
Yofi sah augenblicklich Sara vor sich. Sara, die er schon seit der Kinderzeit kannte. Damals hatte er öfter mit ihr gespielt. Er fand sie nett, aber sie war ihm nicht weiter aufgefallen. Eines Nachts, er war bereits älter und lebte schon einige Zeit von seiner Mutter getrennt, nahm er die Witterung eines verführerischen Duftes auf – des köstlichsten, den er je geschnuppert hatte. Er
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