Yoga-Anatomie
Bogen ist stabiler als eine Gerade.
So entstand die erste primäre Krümmung der Wirbelsäule, die wir als Krümmung der Brustwirbelsäule kennen. Primär ist sie zum einen in dem Sinne, weil sie die erste Vorwärts-/Rückwärtskrümmung war, die sich gebildet hat, zum anderen, weil sie die erste Krümmung ist, die die menschliche Wirbelsäule im Mutterleib annimmt.
Als Nächstes entwickelte sich die Krümmung des Halses. Unsere Vorfahren unter den Fischen hatten keinen richtigen Hals, Kopf und Körper bewegten sich bei ihnen als Einheit und die Kiemen waren direkt hinter dem Hirn angebracht. Die schrittweise Tieferlegung der Atemorgane ermöglichte die Ausbildung eines sehr beweglichen Halses, mit dem sich Kopf und Sinnesorgane schnell und präzise bewegen ließen, was einen noch besseren Überblick über die Umgebung und damit entscheidende Überlebensvorteile bot. Mit dieser Neuausrichtung der Halsregion begann die Entwicklung einer zweiten, lordotischen Krümmung der Wirbelsäule, wie sie bei der Katze (Abb. 2.7) zu sehen ist.
Abb. 2.7 Der Hals war die erste sekundäre Krümmung.
Als Tiere damit begannen, ihre Vorderbeine zur Interaktion mit ihrer Umgebung einzusetzen, wurde die Fähigkeit immer wichtiger, das Gewicht auf die Hinterbeine zu verlagern, und das war der Startschuss für die Entwicklung der zweiten lordotischen Kurve: der einzigartigen menschlichen Krümmung der Lendenwirbelsäule. Zuerst war es nur eine Verflachung der primären Krümmung im unteren Bereich der Wirbelsäule, die es Tieren, wie den in Abbildung 2.8 zu sehenden Gelbbauchmurmeltieren, ermöglichte, ihren Schwerpunkt eine Zeit lang über einer kleinen Standfläche zu halten.
Abb. 2.8 Die primäre Krümmung verflacht sich, damit die Vorderbeine vom Boden angehoben werden können.
Bei diesem Gleichgewichtsakt war auch der Schwanz hilfreich, aber mit seinem allmählichen Verschwinden musste sich die Form der Wirbelsäule ändern, um den Schwerpunkt weit nach oben verlagern zu können. An diesem Wendepunkt der menschlichen Evolution behielten Hüfte, Steiß und Beine im Wesentlichen ihr Vierbeinerverhältnis zum Boden bei, nur der Oberkörper richtete sich nach oben und hinten auf und formte so die Krümmung der Lendenwirbelsäule.
Abbildung 2.9 a verdeutlicht den Unterschied zwischen der Wirbelsäule eines Menschen und der eines Schimpansen. Auffällig ist das Fehlen einer Krümmung im Lendenbereich beim Affen. Deshalb stützen sich Primaten beim Laufen auf ebener Erde auf ihre Fingerknöchel ab (Abb. 29 b). Wenn sie auf den Hinterbeinen laufen, müssen sie ihre langen Arme nach hinten werfen, denn ohne Krümmung der Lendenwirbelsäule ist das die einzige Möglichkeit, um ihr Gewicht über die Füße verlagert zu bekommen.
Abb. 2.9 Nur der Mensch besitzt eine Krümmung im Lendenbereich (a), Primaten können daher nicht als wahre Zweibeiner bezeichnet werden (b).
Die menschliche Wirbelsäule ist im Säugetierreich einzigartig darin, dass sie sowohl primäre (Brust- und Steißbereich) als auch sekundäre Krümmungen (Hals- und Lendenbereich) aufweist (Abb. 2.10).
Abb. 2.10 Die Krümmungen der Wirbelsäule.
Nur wahre Zweibeiner benötigen alle vier Krümmungen. Unsere kletternden und auf den Knöcheln laufenden Verwandten haben zwar eine leichte Krümmung im Hals, aber keine im Lendenbereich, und daher sind sie auch keine echten Zweibeiner.
Um unsere Evolution vom Vier- zum Zweibeiner in yogische Begriffe zu fassen, könnten wir sagen, dass die Beine mehr Sthira zum Aufrichten und Fortbewegen entwickelten, der Oberkörper dagegen mehr Sukha zum Atmen, Ausstrecken der Arme und Greifen. Man könnte es auch so beschreiben, dass die untere Körperhälfte uns in unsere Umgebung hineinbewegt, die obere Körperhälfte unsere Umgebung in uns hereinbringt.
Ontogenese – eine noch kürzere Geschichte unserer Wirbelsäule
Nachdem wir einen Einblick in die Evolution unserer Art (Phylogenese) erhalten haben, wenden wir uns den Entwicklungsstadien zu, die jeder einzelne Mensch durchläuft (Ontogenese).
Auch wenn der Fötus auf seinem Entwicklungsweg bestimmte Merkmale aufweist – und wieder ablegt –, die wir von unseren ältesten Vorfahren kennen, wie etwa Schwanz und Kiemen, ist die Theorie, dass die Ontogenese die Phylogenese nachvollzieht, längst widerlegt. Aber in mindestens einem Aspekt stimmt sie doch: Die phylogenetische Entwicklung unserer Wirbelsäule steht mit der ontogenetischen Entwicklung in engem Zusammenhang. So weist
Weitere Kostenlose Bücher