Yoga-Anatomie
die fötale Wirbelsäule auf ganzer Länge nur die primäre Krümmung auf, und das bleibt während der gesamten Zeit im Mutterleib so (Abb. 2.11).
Unsere Wirbelsäule bewegt sich erst dann aus der primären Krümmung heraus, wenn wir mit dem Kopf durch die Haarnadelkurve des Geburtskanals manövrieren. Das ist für den Hals das allererste Mal, dass er die sekundäre, lordotische Krümmung erfährt (Abb. 2.12).
Die Ausbildung unserer Körperhaltung verläuft vom Kopf aus abwärts. Dann entwickelt sich die Krümmung der Halswirbelsäule weiter, sobald wir mit drei bis vier Monaten lernen, das Gewicht unseres Kopfes zu halten. Die endgültige Form erreicht die Wirbelsäule etwa im Alter von neun Monaten, wenn wir lernen, aufrecht zu sitzen.
Abb. 2.11 Die ganze Wirbelsäule weist im Mutterleib die primäre Krümmung auf.
Abb. 2.12 Das erste Auftreten der sekundären Krümmung: die 90-Grad-Biegung vom Gebärmutterhals in den Vaginalbereich.
Nachdem wir wie unsere vierbeinigen Vorfahren gerobbt und gekrabbelt sind, müssen wir uns eine Krümmung der Lendenwirbelsäule zulegen, um unseren Schwerpunkt über die Füße zu bringen. Beim Laufenlernen zwischen dem 12. und 18. Monat gibt die Lendenwirbelsäule ihre primäre, kyphotische Krümmung auf und streckt sich. Mit drei Jahren wird die Lendenwirbelsäule nach vorn hin konkav (lordotisch), auch wenn das erst im Alter von sechs bis acht Jahren von außen sichtbar ist. Erst nach dem zehnten Lebensjahr erreicht die Lendenwirbelsäule die Krümmung, die sie bis ins Erwachsenenalter beibehält (Abb. 2.13).
Die Natur offenbart ihr ganzes Genie an der Wirbelsäule des Menschen – mehr noch als bei allen anderen Wirbeltieren. Von der Statik her ist der Mensch offensichtlich das Säugetier mit der kleinsten Standfläche, dem höchsten Schwerpunkt und dem schwersten Schädel (im Verhältnis zum Körpergewicht). Als einziger richtiger Zweibeiner unter den Säugetieren ist der Mensch zudem das mechanisch instabilste Lebewesen auf der Erde. Zum Glück wird der Nachteil, einen Schädel so schwer wie eine Bowlingkugel auf der Spitze des Organismus balancieren zu müssen, durch den Vorteil, ein großes Gehirn zu haben, wieder wettgemacht, denn dieses Gehirn ist imstande herauszufinden, wie unser System am effizientesten arbeiten kann – und dabei ist Yoga hilfreich.
Die menschliche Gestalt im Allgemeinen – besonders die Wirbelsäule – weist eine außergewöhnliche Verbindung zwischen zwei widersprüchlichen Anforderungen auf, nämlich Steifheit und Formbarkeit. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, ist der strukturelle Ausgleich zwischen den Sthira- und Sukha-Kräften eng verbunden mit dem sogenannten intrinsischen Gleichgewicht, einer inneren Quelle von Stützkräften, die durch Yoga freigesetzt werden können.
Abb. 2.13 Die Entwicklung der primären und sekundären Krümmungen.
Die Verbindungselemente zwischen den Wirbeln
Die Wirbelsäule als Ganzes ist eine perfekte Konstruktion, um die kombinierten Druck- und Zugkräfte, denen sie durch Schwerkraft und Bewegung ständig unterworfen ist, zu neutralisieren. Die 24 Wirbel sind durch zwischengelagerte Zonen aus knorpeligen Bandscheiben, Gelenken und Bändern (in Abb. 2.14 schematisch in blau dargestellt) miteinander verbunden. Dieses Wechselspiel von knöchernen und weichen Gewebestrukturen stellt eine Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Elementen dar: Die Wirbel sind die passiven, festen Elemente (Sthira), die aktiven, beweglichen Elemente (Sukha) sind die Bandscheiben, Facettengelenke (Kapselgelenke) und ein Netz aus Bändern, das die Bögen benachbarter Wirbel verbindet (Abb. 2.15). Das intrinsische Gleichgewicht der Wirbelsäule ist im Zusammenspiel dieser passiven und aktiven Elemente zu finden.
Abb. 2.14 Wechselnde Zonen mit hartem und weichem Gewebe in der Wirbelsäule.
Abb. 2.15 Bänder der Wirbelsäule.
Um die Gesamtarchitektur der Wirbelsäule zu verstehen, ist es sinnvoll, sie sich als zwei getrennte Säulen vorzustellen. Die schematische Seitenansicht in Abbildung 2.16 zeigt die Aufteilung der Wirbelsäule in eine Säule aus Wirbelkörpern vorn und eine Säule aus Wirbelbögen hinten. Diese Anordnung entstand ganz offensichtlich, um den beiden Anforderungen Stabilität und Biegsamkeit funktionell gerecht zu werden. Die vordere Säule aus Wirbelkörpern trägt das Gewicht, hält also Druckkräfte aus, während die hintere Säule die durch Bewegung hervorgerufenen Zugkräfte auffängt.
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