Yoga-Anatomie
behaupten, dass sie ihre Form (nicht ihr Volumen) dreidimensional ändert – durch Zug oder Druck von oben nach unten, von Seite zu Seite und von vorn nach hinten (Abb. 1.8). In einem lebenden, atmenden Körper ist eine Formveränderung des Brustkorbs ohne Formveränderung der Bauchhöhle unmöglich. Aus diesem Grund hat der Zustand der Bauchregion einen solchen Einfluss auf die Qualität unserer Atmung und darum ist umgekehrt die Qualität der Atmung so entscheidend für die Gesundheit unserer Verdauungsorgane.
Atmung: eine erweiterte Definition
Fassen wir die bisherigen Informationen einmal zu einer erweiterten Definition der Atmung zusammen:
Die Atmung, das Aufnehmen von Luft in die Lungen und das Hinausleiten derselben, wird durch eine dreidimensionale Formveränderung der Brust- und Bauchhöhle verursacht
Eine solche Definition der Atmung erklärt nicht nur, was passiert, sondern auch, wie es gemacht wird. Versuchen Sie einmal folgendes Gedankenexperiment: Ersetzen Sie bei allen die Atmung betreffenden Aussagen das Wort atmen durch den Begriff Form verändern . Zum Beispiel bedeutet der Satz »Ich hatte gerade einen sehr gelungenen Atemzug« eigentlich »Ich hatte gerade eine sehr gelungene Formveränderung«. Und was noch wichtiger ist, der Satz »Ich kann nicht gut atmen« heißt eigentlich »Ich kann die Form meiner Hohlräume nicht gut ändern«. Diese Sichtweise hat tief greifende therapeutische Folgen, denn sie verweist auf die primären Ursachen von Atem- und Haltungsproblemen und kann uns dazu bringen, uns mit jenem tragenden und formgebenden Konstrukt auf der Rückseite der beiden Haupthohlräume zu befassen – mit der Wirbelsäule, die wir in Kapitel 2 behandeln werden.
Eine zentrale Erkenntnis der yogischen Lehre lautet, dass die Bewegungen der Wirbelsäule für die Formveränderungen der Hohlräume unseres Körpers, also die Atmung, von entscheidender Bedeutung sind. Das ist auch der Grund dafür, dass ein so großer Teil der Yoga-Praxis darin besteht, die Wirbelsäulenbewegung mit dem Ein- und Ausatmen zu koordinieren.
Deshalb wird Yoga-Schülern auch beigebracht, während der Wirbelsäulenextension (Streckung) einzuatmen und bei der Wirbelsäulenflexion (Beugung) auszuatmen. Denn vom Wesen her ist die Wirbelsäulenstreckung eine Einatmung und die Wirbelsäulenbeugung eine Ausatmung.
Die Rolle des Zwerchfells bei der Atmung
Ein einzelner Muskel, das Zwerchfell (Diaphragma), ist dazu in der Lage, ganz allein sämtliche dreidimensionale Atembewegungen hervorzurufen. Daher wird in fast jedem Anatomiebuch das Zwerchfell als Hauptmuskel der Atmung beschrieben. Fügen wir das Zwerchfell also unserer Formveränderungsdefinition der Atmung hinzu, um mit der Erforschung dieses bemerkenswerten Muskels zu beginnen:
Das Zwerchfell ist der wichtigste Muskel, der die dreidimensionale Formveränderung der Brust- und Bauchhöhle verursacht.
Um zu verstehen, wie das Zwerchfell diese Formveränderung verursacht, untersuchen wir seine Form und seine Position im Körper, woran es befestigt ist und was an ihm befestigt ist, wie es arbeitet und wie es sich zur restlichen Atemmuskulatur verhält.
Form und Position
Die stark gewölbte Form des Zwerchfells lädt zu Vergleichen ein. Die beiden häufigsten Bilder sind Qualle und Fallschirm (Abb. 1.9).
Abb. 1.9 Die Form des Zwerchfells erinnert viele von uns an eine Qualle (a) oder einen Fallschirm (b).
Ein wichtiger Punkt ist, dass die Form des Zwerchfells von den Organen, die es umschließt und trägt, bestimmt wird. Ohne den Kontakt mit diesen Organen würde die Kuppel in sich zusammenfallen wie eine Wollmütze ohne Kopf darin. Außerdem fällt auf, dass das Zwerchfell eine asymmetrische Doppelkuppel darstellt, wobei die rechte Kuppel höher ist als die linke. Das rührt daher, dass die Leber die rechte Kuppel hoch- und das Herz die linke Kuppel niederdrückt (Abb. 1.10).
Das Zwerchfell teilt den Rumpf in Bauch- und Brusthöhle. Es bildet den Boden der Brusthöhle und die Decke der Bauchhöhle. Sein Konstrukt erstreckt sich über einen großen Abschnitt des Körpers: Der oberste Teil befindet sich auf Höhe des Zwischenraums zwischen dritter und vierter Rippe, seine untersten Fasern sind an der Vorderseite des dritten und zweiten Lendenwirbels befestigt; »von Nippel bis Nabel« trifft es ganz gut.
Muskuläre Befestigungen des Zwerchfells
Muskeln spannen sich zwischen dem Punkt ihres Ursprungs und dem ihres Ansatzes. Die Unterscheidung zwischen
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