Young Sherlock Holmes 1
behaupte nicht, dass blinder und bedingungsloser Gehorsam eine gute Sache ist, aber britische Soldaten haben praktisch ein Rückgrat aus Eisen und die Disziplin mit der Muttermilch aufgesogen. Ich weiß das, denn mein Vater ist Offizier. Sie geraten nie in Panik. Niemals. Nein, selbst wenn es Tote gibt, wird man damit umgehen, als wäre es ein gewöhnlicher Cholera- oder Pockenausbruch. Verstehen Sie denn nicht?
Sie werden es einfach ignorieren.
Das ist es, was die Briten zu tun pflegen. Deswegen ist das Britische Empire so groß und so stark.
Wir ignorieren einfach die Dinge, die uns nicht passen.
«
»Gut gesprochen«, sagte der Baron. »Aber das kaufe ich dir nicht ab. Offensichtlich möchtest du daran glauben, dass euer Empire auf stabilem Felsfundament errichtet ist. Doch da irrst du dich. Die Fundamente sind morsch, und das prachtvolle Gebäude darauf wird in sich zusammenfallen, wenn man nur kräftig genug dagegentritt.
Du denkst, dass morgen noch alles so ist wie heute. Aber das wird nicht der Fall sein. Die Welt wird sich ändern und das Gleichgewicht der Mächte sich zu Gunsten meiner Partner in der Paradol-Kammer verschieben.«
Paradol-Kammer? Was war das? Während Maupertuis weitersprach, prägte sich Sherlock den seltsamen Begriff genau ein. Könnte sich das doch noch als wichtiger und verhängnisvoller Versprecher erweisen, der Mycroft sicher brennend interessieren würde.
Vorausgesetzt natürlich, dass sich Sherlock überhaupt noch einmal die Gelegenheit bieten würde, seinen Bruder wiederzusehen.
»Du möchtest daran glauben, dass dein Bruder weiterhin eine wichtige Rolle in der britischen Regierung spielen wird« fuhr Maupertuis fort. »Aber das wird er nicht. Ebenso wie der Rest seiner Kollegen wird er von der Flutwelle der Geschichte hinweggeschwemmt werden. Wenn euer aufgeblasenes kleines Land zur bloßen Provinz einer europäischen Supermacht geworden ist, die es in Größe und Macht mit Amerika aufnehmen kann, sind Mycroft und seinesgleichen überflüssig. Ihre Sorte Mensch wird in der neuen Weltordnung nicht mehr benötigt. Sie werden der Guillotine oder Garotte anheim gegeben und nicht überleben.«
Maupertuis’ Stimme war mittlerweile zu einem leisen Fauchen geworden, so sehr hatte er sich in seine Gifttirade auf ein Land und ein Volk hineingesteigert, die er abgrundtief verabscheute. Warum hasste er Großbritannien so sehr? Sherlock fragte sich unversehens, welche Taktik wohl am vielversprechendsten sein würde. Sollte er weiterhin eher auf ein rationales Streitgespräch setzen oder den Baron so provozieren, dass dieser sein emotionales Gleichgewicht verlor?
Wie er sich auch entschied, der Ausgang war ungewiss, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie beide sterben.
»Er ist verrückt«, sagte Virginia plötzlich mit leiser, aber fester Stimme zu Sherlock. »Völlig verrückt. Es sieht doch jeder, dass sein Plan irre und sein Wunschziel unmöglich ist. Ob es ihm nun gefällt oder nicht: Großbritannien ist eine Weltmacht. Und das kann er nicht rückgängig machen.«
»Ich bin erstaunt«, fauchte der Baron, »dass du dieses Land so energisch verteidigst, Mädchen.«
Überrascht, dass der Baron sie plötzlich mit einbezog, blickte Virginia auf. »Erstaunt? Warum?«, fragte sie. »Ich mag es nun mal nicht, wenn unschuldige Menschen getötet werden. Ist das so ungewöhnlich?«
»Dein Amerika hat über zweihundert Jahre lang zu diesem Land gehört«, hob der Baron hervor. »Dort wurde alles von London aus geregelt. Ihr wart einfach nur so etwas wie eine weitere Grafschaft. So wie Hampshire oder Dorset, bloß größer und weiter weg. Ihr musstet erst gegen die britische Herrschaft rebellieren, um das Joch von Westminster abzuschütteln.«
»Und das haben wir in einem sauberen Kampf getan«, stellte sie klar. »Nicht mit Hilfe von irgendwelchen Tricks, Verschwörungen oder Geheimplänen. Wenn es schon Kriege geben muss, dann sollten sie so sein: fair, offen und sauber. Es sollte Regeln geben für den Krieg. Genauso wie fürs Boxen.«
»Wie naiv«, murmelte der Baron. »Wie überaus naiv. Und so sinnlos. Leider werdet ihr es nicht mehr erleben, wie eure wertvolle Weltordnung einstürzt. Denn vorher werdet ihr beide sterben.«
»Sie wirken gerne im Dunkeln, nicht wahr?«, sagte sie. Der harte Ton in ihrer Stimme hatte Sherlocks Aufmerksamkeit erregt. Er warf einen Blick auf Virginia und fragte sich, was sie im Schilde führte.
»Der erfolgreiche Kämpfer schlägt aus der
Weitere Kostenlose Bücher