Young Sherlock Holmes 1
können wir nicht einfach die Leiche hier liegenlassen und den Behörden Bescheid sagen?«, fragte Sherlock unsicher. »Wäre das nicht sicherer … für uns?«
Crowe blickte sich um und musterte nachdenklich die Büsche und Bäume. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fuchs oder ein Dachs kommt und sich über die Leiche hermacht, ist zu hoch. Ich bin diesem Burschen vorher nie begegnet, aber so was würde ich niemandem wünschen, ob nun tot oder lebendig. Nein, irgendwann muss er fürs Begräbnis sowieso aus dem Wald transportiert werden. Das kann also genauso gut auch gleich erledigt werden. Solange wir ihn nicht berühren und diese Gesichtsmasken tragen, kann uns nichts passieren.«
Behutsam band sich Crowe das Taschentuch vor Mund und Nase. Die Brandydünste brachten seine Augen zum Tränen. Crowe lachte, was die tiefen Runzeln um seine Augen aussehen ließ wie zerknitterte Leinenwäsche. »Ich habe nie behauptet, dass es guter Brandy ist«, sagte er. »Pass auf, dass du keine Vorliebe für das Zeug entwickelst. Jetzt lauf. Besorg eine Schubkarre aus dem Garten und bring sie hierher. Los, schnell!«
Während sich Crowe über den toten Körper beugte, steckte Sherlock sein Taschentuch für später wieder in die Tasche und eilte auf der gleichen Route zum Haus zurück, auf der sie gekommen waren. Er orientierte sich an diversen Bäumen, Sträuchern und Pilzen, auf die ihn Amyus Crowe auf dem Weg aufmerksam gemacht hatte. So schnell er konnte, flitzte er durch das Unterholz und spürte, wie das Gras gegen seine Knöchel peitschte.
Der Duft von trockenem Farnkraut und Lavendel stieg ihm in die Nase. Schon bald brach ihm der Schweiß auf Stirn und Schultern aus, und Augenblicke später spürte Sherlock, wie dieser an Wangen und Rücken hinunterlief.
Kaum war Sherlock aus dem Unterholz hervorgebrochen, blieb er auf dem freien Gelände stehen, das sich zwischen Haus und Wald erstreckte. Er musste erst einmal wieder zu Atem kommen und sich beruhigen. Die grellen Strahlen der tief stehenden Abendsonne trafen ihn wie ein Keulenschlag. Geblendet beugte er sich vornüber, stützte die Hände auf die Knie und sog gierig die warme Luft ein. Geräusche, die von den Bäumen zuvor fast bis zur Unhörbarkeit gedämpft worden waren, drangen nun plötzlich mit lauter Eindringlichkeit auf ihn ein. Irgendwo wurde Holz gehackt, und aus einer anderen Richtung drang Gesang an sein Ohr, der zusätzlich noch von entferntem Schweinegrunzen untermalt wurde.
Als er aufsah, nahm er in der Ferne eine Gestalt wahr, die auf einem Pferd saß. Reiter und Ross befanden sich knapp jenseits des Zufahrtsweges, der in Nähe der gegenüberliegenden Grenzmauer zur Straße führte. Das Pferd stand unbeweglich da und blickte in Sherlocks Richtung, was so aussah, als würde auch dessen Reiter ihn beobachten. Sherlock blinzelte und hob langsam eine Hand, um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen. Aber in dem Moment, als die Hand seinen Blick versperrte, setzte sich das Pferd in Bewegung, und der Reiter war verschwunden.
Sherlock schob den Gedanken an die Gestalt beiseite und machte sich auf die Suche nach einer Schubkarre. In der Nähe des Hühnerstalls wurde er schließlich fündig. So schnell es ihm im Wald möglich war, schob er die Karre zu der Stelle zurück, an der die Leiche lag. Als er ankam, durchsuchte Crowe gerade die Taschen des Mannes.
»Keine Hinweise auf seine Identität«, erklärte Crowe, ohne sich umzublicken. Seine Stimme klang durch das Taschentuch gedämpft. »Kennst du ihn?«
Sherlock starrte auf das geschwollene Gesicht und spürte, wie sich ihm der Magen verkrampfte. Er versuchte, hinter den Beulen und roten Flecken die Gesichtszüge zu erkennen. »Ich denke nicht«, sagte er schließlich. »Aber es ist schwer zu sagen.«
»Sieh dir seine Ohren an«, erwiderte Crowe. »Menschliche Ohren sind ziemlich charakteristisch. Manche haben keine Ohrläppchen, bei anderen sind sie eingekerbt oder sehen aus wie perfekt geformte Muscheln. Das ist eine einfache Methode, Menschen voneinander zu unterscheiden. Vor allem, wenn sie versuchen sich zu tarnen.«
Sherlock fand, dass der tot auf dem Boden liegende Mann nur schwerlich in der Situation war, sich zu verbergen. Aber er verbiss sich einen entsprechenden Kommentar und konzentrierte sich auf das linke Ohr des Opfers. Er bemerkte, dass es auf halber Höhe eine deutliche Kerbe aufwies, vielleicht die Folgen einer Messerverletzung während eines Kampfes oder eines selbstverschuldeten
Weitere Kostenlose Bücher