Young Sherlock Holmes 2
wies in die schwindelerregende Tiefe. »Da runterzuklettern, dann die Schlucht zu durchqueren und schließlich wieder hochzukraxeln ist keine Alternative, denke ich.«
»Ich glaube«, meldete sich Virginia zu Wort, »was Matty eigentlich sagen will, ist: Müssen wir denn
heute Nacht
da rüber? Und ich denke, ich bin da ganz seiner Meinung.«
»Wir können es uns nicht leisten, eine Pause zu machen und zu schlafen«, gab Sherlock zu bedenken. »Zunächst einmal wissen wir gar nicht, was sich hier draußen alles so herumtreibt. Pumas, Bären …«
»Wahrscheinlich eher nur Waschbären«, murmelte Virginia müde.
»Es könnte alles Mögliche sein«, fuhr Sherlock unbeirrt fort. »Und wir brauchen unbedingt etwas zu essen. Abgesehen von ein bisschen Orangensaft und einem Brötchen habe ich seit heute Morgen nichts zu mir genommen.«
»Essen …«, stöhnte Matty. »Ich bin am
Verhungern
. Glaubst du, hier draußen gibt es irgendetwas, das wir, nun ja,
jagen
könnten?«
»Wahrscheinlich eher umgekehrt«, stellte Sherlock klar. Er machte einen tiefen Atemzug und machte sich daran, die Schlucht zu überqueren. Von Schwelle zu Schwelle tretend, machte er vorsichtig einen Schritt nach dem anderen.
»Was ist, wenn ein Zug kommt?«, rief Matty.
»Nachts fahren hier keine Züge«, beruhigte Virginia ihn. »Die Gefahr, auf einen Bison zu stoßen oder in einen Erdrutsch oder etwas anderes hineinzufahren, ist viel zu groß. Vor Einbruch der Dunkelheit halten die Züge immer in der nächsten Stadt und lassen die Leute aussteigen. Dort können sie dann in Hotels übernachten, bis der Zug am nächsten Morgen wieder weiterfährt.«
»Oh«, sagte Matty, hörbar enttäuscht, dass es offenbar keine Ausrede gab, die Schlucht nicht überqueren zu müssen.
Wie Matty bereits vor ihm stellte auch Sherlock fest, dass es ziemlich anstrengend war, von einer Schwelle auf die nächste zu treten. Denn obwohl er lange Beine hatte, musste er sich trotzdem bei jedem Schritt strecken. Man konnte zwischen den Schwellen hindurchblicken. Aber da die letzten Sonnenstrahlen mittlerweile fast horizontal die Landschaft beschienen, lag die Schlucht in tiefer Finsternis, und alles, was er zwischen seinen Füßen erkennen konnte, war eine tiefe, schwarze Leere. Allerdings musste er bald feststellen, dass er, wenn er zu konzentriert nach unten starrte, Gefahr lief, das Gefühl dafür zu verlieren, wo sich seine Füße genau befanden. Zweimal stolperte er und hätte um ein Haar den Halt verloren. Am Ende entschied er sich, einfach immer nur geradeaus nach vorne zu gucken und auf seine Instinkte zu bauen, damit seine Füße genau auf die Schwellen trafen. Schließlich befanden sich alle Hölzer im gleichen Abstand zueinander, und bald stellte sich heraus, dass er, obwohl er nicht mehr hinsah, trotzdem seinen Rhythmus fand.
Hin und wieder blickte er über die Schulter zurück und sah, wie ihm Virginias und Mattys sich vor dem roten Sonnenball abzeichnende Silhouetten folgten. Wie es aussah, kamen sie ganz gut zurecht. Allerdings, so musste er sich eingestehen, gab es auch nichts, was er im Zweifelsfall hätte tun können, um ihnen zu helfen. Auf diesem langen Gang über die Schlucht steckte jeder von ihnen in seinem eigenen kleinen Universum fest.
Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich. Er blieb stehen und blickte wieder über die Schulter zurück. Virginia war der Länge nach auf die Gleise gestürzt. Sie hob den Kopf und sah ihn erschöpft an. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Bin gestolpert.«
»Virginia, du musst aufstehen!«, rief Matty hinter ihr.
»Ach ja, danke für den Tipp!«, zischte sie und stemmte sich vorsichtig wieder hoch. »Darauf wäre ich nie von selbst gekommen.«
Dann setzten sie sich im Gänsemarsch wieder in Bewegung. Von da an kam es Sherlock so vor, als würde die Zeit stillstehen und Sekunden und Minuten zu einem monotonen, zähflüssigen Brei zusammenfließen. Erst als sie die Schlucht gut und gern dreißig Meter hinter sich gelassen hatten, wurde Sherlock bewusst, dass sich unter den Schwellen und Schienen nun wieder fester Boden befand.
»Lasst uns eine Pause machen«, schlug er vor. »Nur zehn Minuten.«
Matty stöhnte. »Ich muss schlafen.«
»Mein Bruder sagt, dass man tagelang ohne Schlaf auskommen kann. Man muss nur etwas zu tun haben, das wichtig und interessant genug ist.«
»Zur nächsten Stadt zu marschieren mag vielleicht wichtig sein«, konterte Matty, »aber sicherlich nicht
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