Young Sherlock Holmes 2
interessant.«
Sherlock gestattete ihnen eine Pause von gefühlten zehn Minuten, bei denen es sich allerdings – angefangen von dreißig Sekunden bis hin zur einer Stunde – um eine x-beliebige Zeitspanne handeln mochte, angesichts der Tatsache, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatten. Dann brachte er die beiden dazu, wieder aufzustehen und weiterzumarschieren. Schweigend setzten sie ihren Weg neben dem Schienenstrang fort. Zweimal vernahm Sherlock in der Ferne ein Heulen, und einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er schon, dass Balthassar ihre Flucht entdeckt und ihnen seine Pumas hinterhergeschickt hatte. Doch Virginia sagte nur ruhig und gelassen: »Kojoten.«
»Was ist ein Kojote?«, rief Matty von hinten.
»So was Ähnliches wie ein Wolf«, erwiderte Virginia.
»Oh.« Kurzes Schweigen. »Ich frage mich, wie die wohl schmecken.«
»Kurioserweise«, sagte Virginia, »bedeutet das Heulen vermutlich, dass sie sich gerade das Gleiche fragen, was dich anbelangt.«
Der Mond erhob sich über dem Horizont: eine aufgeblähte, weiße Scheibe, die viel größer zu sein schien, als Sherlock sie von England her in Erinnerung hatte. Amerika lag doch bestimmt nicht näher am Mond? Schließlich war die Erde eine Kugel, und da musste sich doch jeder Punkt auf ihrer Oberfläche in gleicher Entfernung zum Erdtrabanten befinden. Die einzige Erklärung, auf die er kam, war, dass das Ganze wohl etwas mit der Erdatmosphäre zu tun hatte. Genauer gesagt mit einer optischen Täuschung, die durch die erwärmte Luft verursacht wurde, welche das Bild vergrößerte und den Mond nur größer
aussehen
ließ.
Nach einer Weile bemerkte Sherlock, dass Matty mit sich selbst redete. Zuerst hatte er geglaubt, dass er mit Virginia sprach. Doch dann fiel Sherlock auf, dass während Mattys kurzer Redepausen von Virginia kein Wort zu hören war. Es war, als könnte Matty eine Stimme hören, die niemand sonst vernahm. Halluzinierte er etwa? Vielleicht machten sich jetzt einfach die Müdigkeit und der Nahrungsmangel bemerkbar. Außerdem hatte Matty ein paar aufreibende Wochen hinter sich.
Obwohl Sherlock sich etwas Sorgen machte, ob sein Freund womöglich gerade unter Halluzinationen litt, kam es ihm nicht im Geringsten merkwürdig vor, dass Mrs Eglantine, die Hauswirtschafterin seines Onkels, eine Weile neben ihm herspazierte. Sie sprach kein Sterbenswörtchen zu ihm. Den Mund zu einer schmalen Linie fest zusammengekniffen, blickte sie ihn einfach nur missbilligend und kopfschüttelnd an. Er hätte weder sagen können, wann sie aufgetaucht, noch, wann sie wieder verschwunden war. Er wusste nur, dass sie zumindest eine Zeit lang da gewesen war. Eine stumme Begleiterin, die beharrlich mit ihm Schritt hielt. Seltsam, dachte er. Warum von allen Menschen, die in seiner Einbildung neben ihm hätten hergehen können, ausgerechnet sie? Warum nicht Mycroft? Oder Amyus Crowe? Und da er gerade schon mal dabei war … wenn sein Verstand getrübt war, warum erschien ihm dann nicht einer von den Menschen, für deren Tod er verantwortlich war? Zum Beispiel Mr Surd, Gilfillan oder Grivens? Selbst Platon wäre ein besserer Weggefährte gewesen als Mrs Eglantine.
Falls Virginia jemanden sah, der eigentlich gar nicht da war, sprach sie jedenfalls nicht davon. Weder auf ihrem Marsch durch die Nacht noch später.
Im Mondlicht konnte Sherlock hin und wieder die Silhouette eines Farmhauses am Horizont ausmachen. Er spielte mit dem Gedanken, von ihrer Route abzuweichen und an einem der Häuser um Hilfe oder zumindest um etwas zu essen und zu trinken zu bitten. Aber irgendetwas ließ ihn einfach weiter neben den Schienen herlaufen.
Erklärungen würden Zeit brauchen und sie vielleicht einfach nur in neue Schwierigkeiten bringen. Das Einzige, was sie wirklich brauchten, war außerdem eine Telegraphenstation, und die würden sie nur an einem Bahnhof in einer Stadt finden.
Nach einer Weile wurden aus vereinzelt stehenden Scheunen und Farmhäusern dichtere Ansammlungen, die schließlich in eine geschlossene, aber lockere Bebauung übergingen. Sie hatten die Randbezirke von was auch immer erreicht. Mit etwas Glück waren sie am Ziel. Sherlock erinnerte sich nicht daran, wie das Stadtbild von Perseverance ausgesehen hatte, als der Zug den Bahnhof wieder verlassen hatte. Schließlich hatte er nicht die ganze Zeit aus dem Fenster gesehen, da andere Dinge seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatten. Gut möglich, dass dies eine andere Stadt war. Eine
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