Young Sherlock Holmes 2
Gleisen folgen, um dorthin zu gelangen. Und dabei, soweit er sich erinnerte, mindestens eine Holzbrücke überqueren, die sich über eine entsetzlich tiefe Schlucht spannte.
Nicht, dass sie eine große Wahl hatten.
»Kommt schon«, sagte er müde. »Bringen wir es hinter uns.«
Also machten sie sich auf den Weg und marschierten über die Grassavanne. Es vergingen lediglich zehn Minuten, ehe sie auf die Eisenbahnschienen stießen, die auf einer fortlaufenden Reihe paralleler Holzschwellen verlegt waren. Dann brauchten sie noch einmal etwa eine halbe Stunde, bis sie den Grenzzaun und die Stelle erreicht hatten, wo ihr Zug von der Hauptstrecke zu Balthassars Haus umgeleitet worden war. Sobald die eigentliche Bahnlinie erreicht war, hatte Matty ein paar Minuten lang versucht, zwischen den Schienen zu marschieren, indem er von einer Schwelle auf die nächste trat. Aber wie sich herausstellte, war die Entfernung zwischen den Holzschwellen etwas zu groß, so dass ihm nach kurzer Zeit die Beine zu schmerzen begannen und er wieder zusammen mit Virginia und Sherlock neben den Gleisen herlief.
Eine weitere halbe Stunde später waren der Zaun und das Haus im wabernden Hitzedunst am Horizont verschwunden. Um sie herum gab es jetzt nichts mehr außer der Grassavanne und dem Schienenstrang, der vor und hinter ihnen ins Nichts führte. Lediglich in weiter Ferne meinte Sherlock die vagen Konturen von Bergen zu erkennen, aber so durch den Dunst hindurch war das schwer zu sagen.
Vögel zogen hoch über ihnen ihre Kreise. Matty hielt sie zunächst für Geier, aber Virginia meinte, dass es Hühnerhabichte seien. Sherlock hielt sich mit seinem Urteil zurück. Er wusste weder, wie Geier noch wie Hühnerhabichte aussahen, womit sich ihm auch keine Grundlage zum Spekulieren bot.
Während sie so dahinmarschierten, ertappte er sich dabei, wie er wieder und wieder über die Pläne grübelte, die Duke Balthassar ihnen skizziert hatte. Das alles klang so absurd: eine konföderierte Armee, die in eine benachbarte britische Kolonie einmarschieren wollte, um einen neuen Staat zu gründen. Einen Staat, in dem sie, statt nach der Pfeife der Union zu tanzen, die Dinge so regeln konnten, wie sie wollten. Sherlock war natürlich gegen die Sklaverei. Aber er war sich nicht so sicher, ob er es gutheißen konnte, wenn eine Gruppe mit gewaltsamen Mitteln einer anderen Gruppe vorschreiben wollte, wie sie zu leben hatte. Was aber war die Alternative? Sollte jeder einfach so nach eigenen moralischen Vorstellungen und Regeln leben dürfen? Und wenn das so war, was geschah dann, wenn der Nachbar im Gegensatz zu einem selbst Diebstahl für erlaubt hielt und einem Schweine, Schafe und Pferde raubte? Doch die Alternative war, dass man jemand anderem gestattete, eine Moral über einen selbst zu verhängen, an die man vielleicht nicht glaubte, der man aber zu gehorchen hatte.
Diese Gedanken brachten ihn wieder zu Platons Buch
Der Staat
zurück, das Mycroft ihm vor der Abreise in Southampton geschenkt hatte. Vor über zweitausend Jahren hatte Platon über all diese Fragen bereits philosophiert. Und in der Zwischenzeit hatte es niemand geschafft, eine Gesellschaftsform zu errichten, die von allen gebilligt wurde und auch tatsächlich richtig funktionierte.
War es das, was Mycroft auf seine ganz eigene beharrliche, ruhige Art und Weise zu bewerkstelligen versuchte: Großbritannien in eine Gesellschaft zu verwandeln, die so gut funktionierte, wie es nur eben ging?
Sherlock stellte fest, dass, je älter er wurde, er einen immer größeren Respekt vor seinem Bruder empfand.
Während sie weiter dahinmarschierten, neigte sich in ihrem Rücken die Sonne unaufhaltsam dem Horizont entgegen und warf immer längere Schatten auf das sanfte, hügelige Grasland vor ihnen. Eine Weile meinte Sherlock, in der Ferne einen dunklen Strich vor dem Hintergrund der in der Abendsonne aufleuchtenden Grasfläche ausmachen zu können. Doch nach einiger Zeit, kurz bevor die Sonne unterging, entpuppte sich der Strich dann als die Schlucht, die der Zug auf dem Weg zu Balthassars Haus überquert hatte. Im schwindenden Licht der Sonne, deren Strahlen nun in einem extremen Winkel auf die Brücke fielen, wirkte diese nicht wie ein Gegenstand aus der realen Welt, sondern eher wie das Spielzeugmodell eines Kindes.
»Und da müssen wir unbedingt rüber?«, fragte Matty mit leiser Stimme, als die drei schließlich am Rand der Schlucht stehen geblieben waren und auf die Brücke starrten.
Sherlock
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