Young Sherlock Holmes 2
ohne Bahnhof oder Telegraphenstation. In dem Fall, so entschied er, würden sie tatsächlich haltmachen, wenn auch nur für kurze Zeit. Vielleicht konnten sie dann jemanden dafür bezahlen, dass er sie nach Perseverance fuhr.
Ein rosafarbener Streifen begann sich am Horizont auszubreiten. Die Sonne ging auf. Waren sie wirklich die ganze Nacht hindurch gewandert? Sherlocks steifen Muskeln und seiner trockenen Kehle nach zu schließen, musste es tatsächlich so gewesen sein.
Oder war das wieder nur so eine Halluzination wie die von Mrs Eglantine?
Nachdem sie stundenlang schnurstracks durch die Gegend marschiert waren, beschrieb die Bahnlinie nun eine Kurve, die sie ins Zentrum der Stadt führte. Und endlich, dort genau vor ihnen, tauchte die Gebäudeansammlung auf, an die Sherlock sich erinnern konnte. Da waren sie: der Bahnhof und die Toilettenhäuschen, die er gesehen hatte, als sie kurz aus dem Zug gestiegen waren. Sie waren am Ziel. Allen Widrigkeiten zum Trotz waren sie am Ziel angelangt.
Auf einem Seitengleis neben dem Bahnhofsgebäude stand ein Zug, der dunkel und verlassen auf die Weiterfahrt wartete. Sherlocks Erinnerung nach war er kürzer als der, mit dem sie gestern in die Stadt gekommen waren.
Als sie auf die erhöhte Bahnhofsplattform stiegen, war nirgends eine Menschenseele zu sehen. Selbst die Telegraphenstation war noch verschlossen. Für den Fall, dass drinnen jemand schlief, hämmerte Sherlock gegen die Tür, doch niemand antwortete. Die ganze Stadt schien noch zu schlummern, obwohl sich bereits das schimmernde Blau des anbrechenden Tages über den Himmel auszubreiten begann.
»Kommt«, krächzte Sherlock mit einer Stimme, die ihm fast im trockenen Hals steckenzubleiben drohte. »Sehen wir zu, dass wir ein Hotel und etwas zu essen finden. Die Telegraphenstation macht vermutlich erst viel später auf.«
»Essen«, sagte Matty, dem ebenfalls fast die Stimme versagte. »Schlafen.«
Virginia brachte nur ein Nicken zustande. Auf ihrem kreidebleichen Gesicht stachen die Sommersprossen wie rotbraune Tintenpunkte hervor, und sie sah aus, als sei sie endgültig am Ende ihrer Kräfte.
Das Hotel befand sich vom Bahnhof aus gesehen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die aus trockener Erde bestehende Straße war von unzähligen Radfurchen durchzogen, und darauf zu laufen kam Sherlock im Vergleich zum Grasland seltsamerweise viel anstrengender vor.
Die Schwingtüren des Hotels waren nicht verschlossen, was ihnen wie ein unverhofftes Stückchen Glück vorkam, das ihnen nach so langer Zeit endlich wieder einmal vergönnt war.
Sie betraten den großen, offenen Schank- und Speiseraum und blieben verblüfft stehen. Dort mitten im Raum stand, über eine auf einem Tisch ausgebreitete Landkarte gebeugt, Amyus Crowe.
Als er die drei eintreten hörte, blickte er auf. Innerhalb von nur einer Sekunde spiegelten sich auf seinem Gesicht so viele unterschiedliche Emotionen wider, dass Sherlock das Gefühl hatte, als würden dort vor ihm auf einmal verschiedene Männer stehen.
Virginia rannte zu ihrem Vater und schlang die Arme um ihn. Matty ließ sich nur noch auf einen Stuhl sinken und schloss die Augen.
»Sie haben uns tatsächlich aufgespürt«, sagte Sherlock. Zu seiner eigenen Überraschung war aus seiner Stimme keinerlei Gefühl herauszuhören. Vielleicht hatten die Strapazen des nächtlichen Marsches allen Enthusiasmus in ihm abgetötet. Das Einzige, was blieb, war eine unendlich große Müdigkeit.
»Ich habe mich unter den Zeitungsjungen umgehört«, begann Crowe schließlich, der ganz offensichtlich Mühe hatte, seine Stimme zu beherrschen. »Es gibt nicht viel in der Stadt, das sie nicht mitbekommen, und irgendwie schaffen sie es immer, dass die Leute keine Notiz von ihnen nehmen. Von ihnen habe ich erfahren, dass man dich verfolgt hat, du es aber geschafft hast, den Spieß umzudrehen. Netter Trick übrigens, das mit der Kappe, der Jacke und den Zeitungen. Einer von ihnen hat dich an der Pension gesehen und ein anderer dann später euch beide am Bahnhof. Den Rest konnte ich mir selbst zusammenreimen.« Er machte einen langen, bebenden Atemzug. »Auch kann ich mir in etwa vorstellen, warum es euch hierher verschlagen hat. Wenn ich glauben würde, dass du das alles absichtlich gemacht hast, Sohn, würde ich dich auf das erstbeste Schiff zurück nach England verfrachten und sicherstellen, dass wir beide uns nie wieder gleichzeitig auf ein und demselben Kontinent befinden. Aber ich vermute, dass es
Weitere Kostenlose Bücher