Young Sherlock Holmes 2
die ganze Strecke am Dachrand entlangzog. Der Verrückte würde todsicher zuerst nach unten blicken, wenn er ins Zimmer kam und ans offene Fenster trat. Wenn Sherlock nach oben kletterte, könnte er seinem Verfolger vielleicht entkommen. Oder zumindest etwas Zeit gewinnen.
Er stellte sich auf die Fensterbank und griff mit der rechten Hand nach ein paar Blauregenästen, während er mit der linken vorsichtig das Fenster schloss. Nun war ihm der Rückweg versperrt, aber möglicherweise hatte er dadurch ein paar weitere Momente der Sicherheit gewonnen.
Er streckte sein rechtes Bein zur Seite und tastete nach einer Astgabel im Blauregen, die stabil genug sein würde, sein Gewicht zu tragen. Nach einer kleinen Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, stieß sein Fuß auf eine Gabelung, die unter seinem Gewicht etwas nachgab, wahrscheinlich jedoch halten würde.
Nervös vertraute er den Rankenästen nun sein ganzes Gewicht an und tastete mit dem linken Fuß nach einer etwas höher gelegenen Astgabel. Dann stemmte er sich empor und suchte mit der linken Hand nach einer weiteren Ranke, stieß stattdessen jedoch auf einen Spalt zwischen zwei Ziegelsteinen. Er krallte die Finger in die Fuge und fand ausreichend Halt. So arbeitete Sherlock sich langsam weiter an der Wand empor, bis er das Fenster unter sich gelassen hatte und sich dem Dach näherte.
Plötzlich geriet ihm herabrieselnder Ziegel- und Mörtelstaub in die Augen. Er kniff die brennenden Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um den Staub loszuwerden. Doch immer mehr Staub und kleine Steinchen rieselten ihm auf Kopf und Schultern.
Auf einmal geriet der Blauregen ins Wanken. Anscheinend löste sich das Gewächs durch Sherlocks Gewicht von der Mauer. Langsam, aber unaufhaltsam wurden die Ranken aus den Spalten, Fugen und Ritzen gezerrt, in die sie im Laufe der Jahre vorgedrungen waren. Sherlock spürte, wie sich sein Körperschwerpunkt von der Wand wegverlagerte. Er blickte hinab und fühlte augenblicklich Übelkeit in sich aufsteigen, als der Boden unter ihm zu schwanken begann, während er in der Luft hin und her schaukelte. Die Äste, an denen er sich mit der rechten Hand festhielt, lösten sich von der Mauer, und auf der Suche nach neuem Halt tastete Sherlock hektisch über die Wand. Erleichtert bekam er einen dicken Rankenstamm zu fassen, der noch fest im Mauerwerk verankert zu sein schien. Er drückte sich mit dem rechten Fuß so weit wie möglich nach oben, und gleich darauf schloss sich seine linke Hand auch schon um einen Ziegel am Dachrand. Dankbar hielt er einen Augenblick inne, um wieder Atem zu schöpfen, als er plötzlich unter sich ein quietschendes Geräusch hörte. Das Fenster wurde hochgeschoben.
Sherlock erstarrte und drückte sich fest gegen die Wand. Obwohl er nicht nach unten blicken konnte, spürte er förmlich, wie sich eine dunkle Gestalt aus dem Fenster beugte und den Boden darunter absuchte. Sherlock hielt den Atem an. Er durfte jetzt auf keinen Fall einen Mucks von sich geben, sonst wäre er verloren.
Ziegelstaub fiel von oben auf ihn herab, und die dicke Ranke, an die er sich mit der rechten Hand klammerte, begann sich allmählich von der Mauer zu lösen. Er hielt sich jetzt schon viel zu lange daran fest und hätte sein Gewicht längst verlagern müssen. Aber das traute er sich nicht.
Noch mehr Ziegelstaub rieselte ihm ins Auge, und er musste heftig blinzeln.
Und wie seine Nase juckte! Er war kurz davor zu niesen. Aber durch ein energisches Naserümpfen gelang es ihm gerade noch rechtzeitig, es zu unterdrücken.
Der Mann unter ihm wiegte sich vor und zurück, und sein Blick schien wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms über den Boden zu gleiten. Weiter hinten im Garten des Hauses konnte Sherlock diverse übereinandergestapelte Holzkisten ausmachen. Zwischen den einzelnen Latten waren Spalten, und einen Moment lang glaubte er, Bewegungen dahinter wahrzunehmen. Aber dann wurde seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann unter ihm gelenkt, als dieser sich plötzlich umwandte und nach oben blickte.
Auf ihn.
»Du feiger, frecher Hundesohn!«, kreischte der Irre und feuerte einen Schuss ab.
Die Kugel sauste wie eine wütende Hornisse an Sherlocks Ohr vorbei, und die Hitze versengte ihm das Haar. Schnell hievte er sich auf den Dachvorsprung empor und zog gerade rechtzeitig die Beine nach, als der Verrückte erneut einen Schuss abgab.
Dann trat Ruhe ein, und Sherlock versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Wenige Augenblicke später
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