Young Sherlock Holmes 2
lugte er vorsichtig über die Kante hinunter.
In der Fensteröffnung war niemand mehr zu sehen. Offenbar kam sein Verfolger die Treppe hinauf, um ihn zu schnappen.
Verzweifelt sah Sherlock sich um. Der Vorsprung, auf dem er sich befand, war nicht einmal einen halben Meter breit. Daneben schloss sich die eigentliche, mit Ziegeln gedeckte Dachfläche an, die sich in steilem Winkel bis zum First erstreckte. Mansardenfenster durchbrachen alle drei bis vier Meter das Dach. Vermutlich befanden sich im Dachgeschoss noch Schlaf- oder Lagerräume.
Er musste einen Ausweg finden. Und zwar schnell.
Da Sherlock klar war, dass er es niemals rechtzeitig schaffen würde, am Blauregen hinunterzuklettern, sprintete er auf dem Sims entlang zum ersten Fenster. Doch entweder war es verschlossen, oder es klemmte. Er eilte zum nächsten, aber auch da war nichts zu machen. Das dritte Fenster stand einen Spaltbreit offen, doch das Holz hatte sich so verzogen, dass es sich nicht weiter hochschieben ließ.
Sherlock machte einen weiteren Schritt auf das vierte Fenster zu. Doch plötzlich sah er, dass der Verrückte bereits draußen auf dem Sims stand … an der Ecke, wo der Vorsprung zur Rückseite des Hauses herumführte.
Offensichtlich hatte er einen Weg hinaus aufs Dach entdeckt, ehe Sherlock einen ins Haus hinein gefunden hatte.
Sein Gegner richtete den langen Lauf der Waffe mitten auf Sherlocks Brust.
»Zur Hölle mit dir«, kreischte er. »Und sag ihnen, dass ich dich geschickt hab!«
Sherlock erwartete, dass ihn jeden Moment die Kugel treffen und vom Dach fegen würde. Und er fragte sich, ob das Projektil ihn wohl noch vor dem Aufprall unten töten würde. Es sah ganz so aus, als stünde er vor dem letzten Experiment seines Lebens.
Doch da kam plötzlich ein weiterer Mann um die Ecke. Ein ziemlich korpulenter Mann mit hellblonden Haaren, dessen Nase und Wangen von einem Geflecht geplatzter Äderchen überzogen waren. Mit dem linken Arm packte er den Verrückten in einem Würgegriff am Hals, während er mit der rechten Hand eine Injektionsnadel in dessen Schulter rammte. Er drückte den Kolben der Spritze bis zum Anschlag hinunter, und was für eine Droge sich auch immer in der Kanüle befinden mochte, strömte nun in den Blutkreislauf des Verrückten. Sherlocks Verfolger sackte in den Armen des anderen zusammen und ließ den Revolver scheppernd aufs Dach fallen. Er versuchte etwas zu sagen, aber er konnte nur noch lallen. Seine Augenlider flatterten noch ein wenig, und dann bewegte er sich gar nicht mehr.
Der Neuankömmling zog die Nadel aus der Schulter des Irren. Eine klare Flüssigkeit tropfte von der Spitze herab. Der korpulente Mann löste seinen Griff und ließ den Verrückten langsam zu Boden gleiten. Während er sich wieder aufrichtete, taxierte er Sherlock mit ruhigem Blick.
»Was machst du hier, Junge?«
»Ich wollte nur meinen Ball aus dem Garten holen«, erwiderte Sherlock und gab sich Mühe, dabei jünger und verwundbarer zu klingen, als er war. »Da hat mich dieser Kerl da plötzlich gepackt und ins Haus gezerrt.« Unwillkürlich registrierte Sherlock, dass der Mann den Revolver an sich genommen hatte und ihn nun mit dem Lauf nach unten in der Hand hielt.
»Und was wollte der Gentleman von dir, als du dann im Haus warst?«
»Keine Ahnung. Ich schwör’s, ich weiß es nicht.«
Nachdenklich schwieg der Mann eine Weile, während er mit dem Revolverlauf ungeduldig gegen sein Hosenbein tippte.
»Komm mit ins Haus«, sagte er schließlich und richtete wie beiläufig den Lauf der Waffe auf Sherlock. »Und nimm den da mit«, fügte er hinzu und wies mit einem Nicken auf den Ohnmächtigen. »Zieh ihn hier um die Ecke. Gleich dahinter ist ein offenes Fenster. Lass ihn einfach da reingleiten.«
»Aber …«
»Keine Widerworte, Junge. Tu einfach, was ich sage.«
Sherlocks Blick wanderte vom Gesicht des korpulenten Mannes zum Revolver und wieder zurück. Dieser Mann war weder unruhig noch nervös oder verrückt. Er wirkte absolut vernünftig – aber genauso gewillt, die Waffe zu benutzen.
Sherlock setzte sich in Bewegung und packte den Verrückten an den Schultern, während der andere Mann zurücktrat, um ihm Platz zu machen. Sherlock schleifte den Bewusstlosen um die Ecke und auf das offene Fenster zu, wobei er sich die ganze Zeit deutlich der wenigen Zentimeter bewusst war, die ihn vom Rand des Simses und vom Abgrund trennten. Nur ein Fehltritt, und er würde hinunterfallen.
Der Ohnmächtige war alles andere
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