Young Sherlock Holmes 2
in der er leichter atmen konnte. Dabei registrierte er, dass die Kleidung des Mannes ähnlich geschnitten war und aus einem vergleichbaren Stoff bestand wie die des Verrückten, der Sherlock geschnappt hatte. Offenbar kamen sie beide aus dem gleichen Land.
Da hörte Sherlock plötzlich Krach auf dem Flur. Er schaffte es gerade noch auf den Stuhl zurück, bevor der Wahnsinnige wieder den Raum betrat. Auf seiner Stirn glänzten etliche Schweißperlen. Die verwüstete linke Gesichtshälfte jedoch war trocken wie Papier.
»Ein Schiff nach China steht für mich bereit«, verkündete er. Dabei war sein eines Auge so weit aufgerissen, dass das Weiße des Augapfels hervorstach wie bei einem panischen Pferd, und Sherlock war sofort klar, dass der Mann sich die Existenz des Schiffes ebenso einbildete wie den Rauch, den er dauernd wahrnahm und der vermutlich von dem Feuer herrührte, das die schrecklichen Gesichtsnarben verursacht hatte.
»Gehen Sie schon mal vor«, sagte Sherlock so gelassen wie möglich. »Ich komme nach.« Er hoffte, dass ein ausgeglichener und zuversichtlicher Tonfall seinen Peiniger vielleicht dazu bewegen würde, einfach wieder umzudrehen und wegzugehen. Doch es passierte genau das Gegenteil.
Der Mann hob die Hand, und mit kaltem Entsetzten registrierte Sherlock, dass der Verrückte eine silbrig schimmernde Feuerwaffe mit immens langem Lauf und einer trommelförmigen Ausbuchtung über dem Griff in der Hand hatte. Ein Revolver! »Bloß keine Spuren hinterlassen! Nein, keine Spuren!«, flüsterte der Mann nervös und richtete den Lauf auf Sherlocks Stirn.
Sherlock ließ sich blitzschnell vom Stuhl gleiten – gerade noch rechtzeitig, bevor sich mit einem ohrenbetäubenden Knall und beißendem Rauch ein Schuss löste und sich die Stelle, an der Sherlock einen Sekundenbruchteil zuvor noch den Kopf an den Schonbezug gelehnt hatte, in eine Masse aus zersplitterten Holzfasern, zerfetzten Stoffstreifen und hervorquellender Rosshaarfüllung verwandelte. Sherlock kam hinter einem Beistelltisch wieder hervor, den er ohne nachzudenken seinem Gegner entgegenschleuderte, woraufhin der Verrückte wieder einen Schuss abgab. Die Bleikugel riss lange Holzsplitter aus dem Tisch und fegte ihn durch die Wucht des Treffers noch in der Luft zur Seite.
Wieder zielte der Mann auf Sherlock. Diesmal pfiff die Kugel knapp über seinen Kopf hinweg und durchschlug das Fenster hinter ihm, das in tausend Stücke zersprang. Sherlock rannte auf die Zimmertür zu, um über den Flur zu entkommen. Gerade als er die Tür passierte, bohrte sich eine vierte Kugel in den Rahmen und sandte ihm einen Regen aus Holzspänen hinterher. Der Weg zur Haustür war zu weit. Spätestens wenn er am Türgriff herumhantierte, würde der Verrückte auf dem Flur sein und wieder auf ihn feuern. Dann säße er in der Falle. Also entschied sich Sherlock blitzschnell für einen anderen Ausweg und stürmte die Treppe hoch.
Der Mann tauchte gerade am Fuß der Treppe auf, als Sherlock den oberen Flur erreicht hatte. Ein rascher Blick nach unten verriet ihm, dass sein Verfolger dabei war, die Waffe nachzuladen. Also ist er doch nicht völlig verrückt, dachte Sherlock und sprintete über den Flur im ersten Stock. Im nächsten Augenblick ertönte erneut ein ohrenbetäubender Knall. Sherlock wirbelte herum. Der Verrückte hatte einen Elchkopf getroffen, der auf eine Holztafel montiert war. Der Schuss hatte die Tafel samt Kopf von der Wand gerissen. Perplex starrte Sherlock auf den am Boden liegenden Elchkopf, der nun ein ausgefranstes Loch hatte, wo zuvor noch ein Glasauge gewesen war. Als würde es nicht reichen, dass das arme Tier bereits einmal erschossen worden war, musste es nun auch noch die Schmach über sich ergehen lassen, ein zweites Mal erlegt zu werden. Dabei hatte es jetzt nicht einmal die Chance zur Flucht gehabt.
Als Sherlock am Ende des Flures angekommen war, blieb ihm nur noch die Wahl zwischen zwei Türen, die jeweils rechts und links abgingen. Er konnte schon die Schritte seines Verfolgers auf der Treppe hören. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte, und versuchte sich zu erinnern, wie das Haus von draußen ausgesehen hatte. An einer Seite rankte Blauregen empor. Aber befand sich dieses Fenster nun im rechten oder im linken Zimmer?
Aufs Geratewohl entschied er sich für die rechte Seite. Würde er noch länger darüber nachdenken, wäre er sowieso tot. So hatte er zumindest eine Fifty-fifty-Chance.
Er drückte die Klinke herunter,
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