Young Sherlock Holmes 2
schlüpfte durch die Tür und zog sie rasch wieder hinter sich zu. Mit etwas Glück würde der Mann mit dem Revolver erst das andere Zimmer überprüfen, und Sherlock hätte ein wenig Zeit gewonnen.
Sherlock sah sich im Zimmer um und erblickte ein ungemachtes Bett. Es sah aus, als wäre derjenige, der darin geschlafen hatte, gerade erst aufgestanden und hätte sich schleunigst angekleidet, ohne sich großartig ums Aufräumen Gedanken zu machen. Und offensichtlich hatte auch kein Dienstmädchen dafür gesorgt, dass das Zimmer in Ordnung gebracht wurde. Daher vermutete Sherlock, dass der Verrückte und dessen Entführer, beziehungsweise Wächter, die Einzigen waren, die sich im Haus befanden. Wenn sie etwas im Schilde führten oder sich vor jemandem verstecken mussten, würde ein Dienstmädchen ein zu großes Risiko darstellen. In dem Fall wäre es für die Männer am besten, unter sich zu bleiben, um neugierigen Fragen zu entgehen. Was bedeutete, dass sie vermutlich das Kochen und die ganze Hausarbeit selbst übernahmen.
Und das wiederum bedeutete, wie Sherlock blitzartig klar wurde, dass sich vermutlich mindestens noch ein dritter Mann im Haus aufhielt, einmal vorausgesetzt, dass der Verrückte ständig beaufsichtigt werden musste.
Sherlock schlich sich zum Fenster, wobei er ständig auf Geräusche auf dem Flur achtete und die Tür im Blick behielt. Als er am Bett vorbeikam, bemerkte er eine aufgeklappte Tasche auf dem Boden. Darin sah er etwas Gläsernes und Metallisches schimmern. Neugierig bückte Sherlock sich und blickte hinein.
In jeweils einzelnen Fächern steckte auf der einen Taschenseite eine Reihe von Ampullen, die eine farblose Flüssigkeit enthielten. Der Boden war mit einem bunten Sammelsurium medizinischer Instrumente wie Skalpelle und dergleichen übersät, die, wie es den Anschein hatte, in aller Eile hineingeworfen worden waren. Aus einem Fach auf der anderen Taschenseite lugte eine flache Schachtel hervor, die Sherlock irgendwie bekannt vorkam. Schachteln wie diese hatte er schon einmal bei den Ärzten gesehen, die seine Schwester während ihrer langen Krankheitsphasen behandelt hatten. Üblicherweise enthielten sie Injektionsspritzen: mit einem Kolben versehene Glaszylinder, an deren Spitze sich eine Hohlnadel befand, die man dazu benutzte, Medikamente in den Blutkreislauf zu injizieren. Sherlock hatte diese Spritzen auf einmal so lebhaft vor Augen, dass er für einen Moment völlig vergaß, wo er sich befand. Er war wieder zu Hause und beobachtete durch einen Türspalt das emsige Treiben der Ärzte und Krankenschwestern am Bett seiner Schwester. Nadeln und Spritzen faszinierten Sherlock: wie sich das Licht auf ihnen widerspiegelte, ihre groteske Funktionalität … die Art und Weise, wie sie die Grenze zwischen dem Körperinneren und der Außenwelt verwischten, wie sie die Dinge besser machten und den Schreien ein Ende bereiteten.
Er schauderte. Jetzt war keine Zeit für Erinnerungen. Ein Verrückter mit einem Revolver war ihm dicht auf den Fersen und konnte jede Sekunde ins Zimmer kommen.
Sherlock machte sich am Fenster zu schaffen und glaubte einen Augenblick lang, dass es verriegelt oder zugenagelt war. Sooft er auch versuchte, es hochzuschieben, es rührte sich keinen Millimeter. Aber es
musste
einfach aufgehen! Denn wenn hier medizinische Geräte herumlagen, konnte es sich nicht um das Zimmer des Verrückten handeln, und dann war es auch nicht nötig, das Fenster zu verriegeln. Im Zimmer des Irren hingegen waren sicherlich Eisengitter vor dem Fenster.
Mit aller Kraft zog Sherlock noch einmal daran. Plötzlich quietschte Holz auf Holz, und das Fenster glitt nach oben. Erfrischend kühle Luft wehte ihm ins Gesicht. Er setzte sich auf die Fensterbank und schaute sich um. Im Garten und auf der Straße war weder von Matty noch sonst jemandem eine Spur zu sehen.
Sherlock blickte hinab. Der Blauregen rankte sich von den Beeten unten bis ganz zum Fenster empor. Mit Leichtigkeit würde er da hinunterklettern können.
Aber was dann? Wenn der Irre ins Zimmer kam und Sherlock erst halb unten war, wäre er ein leichtes Ziel. Der Verrückte könnte ihm einfach eine Kugel in den Kopf jagen und zusehen, wie er hinunterfiel.
Er schaute nach oben. Soweit er sehen konnte, wuchs der Blauregen, dessen Ranken sich in die Mörtelfugen zwischen den Ziegelsteinen krallten, sogar bis zum Dach hinauf. Kurz unterhalb der Stelle, wo das Dach begann, nahm Sherlock einen Vorsprung wahr, eine Art Sims, der sich
Weitere Kostenlose Bücher