Young Sherlock Holmes 2
die Zeit dafür bestimmen wir.«
Sherlock hatte nun die Treppe erreicht, und Ives bedeutete ihm, dass er hinuntergehen solle. Widerstrebend gehorchte Sherlock. Irgendwann müsste er es darauf ankommen lassen und einen Fluchtversuch unternehmen. Aber wenn er es jetzt probierte, würde ihn Ives einfach über den Haufen schießen und einen anderen Weg finden, seine Leiche ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Außer Ives ein paar vorübergehende Unannehmlichkeiten zu bereiten, würde er nichts damit erreichen, wenn er jetzt weglief. Da war er sich sicher. Aber vielleicht bot sich ihm ja eine Chance, wenn sie ins Freie kamen.
Als Sherlock die Treppe hinunterstieg, konnte er plötzlich etwas unter seiner Schuhsohle spüren. Doch bevor er nachsehen konnte, was dort lag, hatte Ives ihn auch schon weitergestoßen. Neugierig blickte er sich noch einmal um, und sein Blick fiel auf eine Schnur, die plötzlich vom Treppengeländer bis zur getäfelten Wand verlaufend straff über die Treppe gespannt wurde. Eben noch hatte sie auf der Stufe gelegen, als er darauf getreten war.
Als Ives dann den nächsten Schritt abwärts machte, verfing sich sein Fuß auch schon in der Schnur, und während sich sein Oberkörper weiter vorbewegte, steckte sein Fuß fest und kam nicht von der Stelle. Ives’ Augen weiteten sich in grotesk-komischer Weise, als er nach vorne stürzte. In panischen Bewegungen langten seine Hände nach der Wand und dem Treppengeländer. Dabei krachte die rechte Hand mit dem Revolver so heftig gegen die Wandtäfelung, dass er die Waffe fallen ließ. Sherlock sprang zur Seite, als Ives zuerst mit der Schulter auf die Stufen prallte und dann sich mehrmals überschlagend die Treppe hinabpolterte, bis er schließlich lang ausgestreckt auf dem Teppichboden im ersten Stock liegen blieb.
Sherlock, der sich noch auf halber Treppenhöhe befand, lugte über den Rand des Geländers hinab. Von unten aus dem ersten Stock starrte ihm aus dem Halbdunkel das blasse Gesicht seines Freundes Matty entgegen, der das eine Ende der Schnur hielt. Der Schnur folgend blickte Sherlock zum Geländer, von wo aus sie weiter über die Treppe bis zu einem Nagel verlief, der zwischen Fußleiste und Wand steckte und an dessen Kopf sie verknotet war.
»Du kannst von Glück sagen, dass der Nagel sich nicht gelöst hat, als der Kerl gegen die Schnur gelaufen ist«, stellte Sherlock gelassen fest, obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte.
»Falsch«, korrigierte Matty ihn. »
Du
kannst von Glück sagen, dass er sich nicht gelöst hat. Für mich hätte es keinen Unterschied gemacht. Der Bursche hatte ja sowieso keine Ahnung, dass ich hier bin.«
Sherlock ging die Treppe hinab und bückte sich, um nach Ives zu sehen. Der Mann hatte das Bewusstsein verloren, und auf seiner Stirn hatte sich ein übel aussehender Bluterguss gebildet. Sherlock hob vorsichtshalber den Revolver auf. Er verspürte nicht die geringste Lust, es darauf ankommen zu lassen.
Matty trat auf ihn zu. »Sag mal, was ist das nur immer mit dir und den Häusern von anderen Leuten?«, fragte er.
»Was meinst du?«
»Ich meine, dass ich dir ständig aus der Patsche helfen muss.« Er blickte die Stufen empor. »Was ist da oben los gewesen? Ich hab mitgekriegt, wie der Kerl mit dem verbrannten Gesicht dich ins Haus geschleppt hat. Dann sind zwei andere Typen in einer Droschke aufgetaucht. Und schon einen Moment später turnt ihr zu dritt auf dem Dach rum. Als ich den Revolver gesehen hab, dachte ich mir, ich geh wohl besser rein und hol dich raus.« Er schüttelte den Kopf. »Für einen so klugen Jungen verplemperste ganz schön viel Zeit damit, dich gefangen nehmen zu lassen. Kannste dich nicht einfach mal aus Schwierigkeiten rausquatschen?«
»Ich glaube«, erwiderte Sherlock, »dass es manchmal gerade mein Gequatsche ist, das mich in Schwierigkeiten bringt.« Er hielt inne und dachte nach. »Woher hast du eigentlich die Schnur?«
»Aus meiner Tasche natürlich«, sagte Matty. »Schließlich weißte nie, wozu man vielleicht mal ’ne Schnur braucht. Und den Nagel hab ich hier irgendwo aus der Wand gezogen. Hing ’n Bild dran.«
»Komm schon«, forderte Sherlock ihn auf. »Lass uns abhauen.«
»Da ist noch ein anderer Kerl unten«, gab Matty zu bedenken. »Aber der ist ohnmächtig. Zumindest war er das, als ich raufgekommen bin. Wir sind besser auf der Hut, falls er mittlerweile wieder bei Bewusstsein ist.«
Die beiden schlichen sich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und
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