Young Sherlock Holmes 2
abgelegt. So wie es der verschlüsselten Botschaft zu entnehmen war. Ich habe die Passagierlisten überprüft, aber keine Namen gefunden, mit denen wir etwas anfangen könnten. Ein Passagier ist nicht aufgetaucht. Ich kann nur vermuten, dass es sich dabei um unseren unglücklichen Mr Gilfillan handelt, der sich in diesem Moment in der Obhut der Farnham Police befindet. Ich werde ihn später noch der Metropolitan Police überstellen lassen. Das wird die weiteren Ermittlungen erleichtern.«
»Springen Sie nicht zu hart mit dem Mann um«, sagte Crowe sarkastisch. »Denken Sie daran, dass er bis jetzt noch keines Verbrechens überführt worden ist.«
Mycroft hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Stattdessen wandte er sich Sherlock zu. Er legte ihm einen Arm auf die Schulter und wies mit der anderen Hand auf die
SS Scotia
. »Ist vor sechs Jahren vom Stapel gelaufen. Von der Cunard Line hier in England gebaut und bereedert«, erklärte er. »Sie ist hundertfünfzehn Meter lang und wiegt dreitausendneunhundert Tonnen. Der Kapitän heißt Judkins. Er gilt als Cunards zuverlässigster Offizier. Neben der normalen Fracht kann die
Scotia
dreihundert Passagiere aufnehmen, und sie verfeuert hundertvierundsechzig Tonnen Kohle am Tag. Sie ist in der Lage, die Strecke zwischen Southampton und New York in acht Tagen und ein paar Stunden zurückzulegen. Stell dir das mal vor: Nur eine Woche, und du wirst in Amerika sein. In den Tagen der alten Pioniere, die dieses große Land zuerst besiedelt haben, hätte diese Reise Monate gedauert.«
»Bist du jemals in Amerika gewesen, Mycroft?«, fragte Sherlock.
Ein Schauder durchfuhr den mächtigen Körper seines Bruders. »Also, was mich anbelangt, so empfinde ich selbst Southampton schon als ausländisches Territorium«, erwiderte er. »Amerika könnte ebenso gut in der Arktis sein.«
Mycroft wandte sich wieder Crowe zu. »Das Gepäck wird bereits auf dem Weg zu Ihren Kabinen sein«, sagte er. »Nach einigem Überlegen habe ich drei Kojen in zwei Kabinen reserviert. Eine ist für Sie und Sherlock. Die andere für Virginia, doch soweit ich weiß, wird sie diese mit einem anderen weiblichen Passagier teilen. Ich war nicht in der Lage, den Namen dieser Person zu ermitteln. Aber Sie können sicher sein, dass eine Frau, die in der ersten Klasse reist, freundliche Umgangsformen haben wird.«
»Ich bin sicher, dass Virginia zurechtkommen wird«, erwiderte Crowe, der sich jedoch plötzlich unbehaglich zu fühlen schien.
»Noch eine Sache«, fuhr Mycroft fort. »Ich habe für Sie drei Plätze beim Abendessen reservieren lassen. Von Leuten, die sich auf solche Dinge verstehen, wurde mir erzählt, dass die Plätze, die man beim ersten Abendessen bekommt, für den Rest der Reise Ihre soziale Stellung an Bord bestimmen. Am besten sind die Plätze in unmittelbarer Nähe zum Kapitän sowie diejenigen, die sich am weitesten entfernt von den Maschinen und – im Falle von Seekrankheit – in der Nähe der Türen befinden. Ich weiß, die Reise dauert nur acht Tage. Aber warum sollen Sie es während dieser Zeit nicht so bequem wie möglich haben?« Wieder durchlief ihn ein Schauder. »Ich kann nicht behaupten, dass ich Sie drei beneide. Ich persönlich finde ja schon die Fahrt von meiner Unterkunft ins Büro und vom Büro in den Club ermüdend genug. Keine zehn Pferde würden mich auf so ein Schiff bringen.«
Crowe lächelte. »Sie werden überrascht sein, Mr Holmes, was uns alles dazu bewegen kann, unsere Gewohnheiten zu ändern. Es können die kleinsten Anlässe sein. Ich denke, dass auch Sie noch die Freuden kennenlernen werden, die Auslandsreisen einem bereiten können.«
»Gott behüte!«, stieß Mycroft hervor.
Und dann war es Zeit zu gehen. Sherlock streckte die Hand aus und Mycroft tat es ihm nach. Ernst und nüchtern schüttelten sich die beiden die Hände, wie zwei Gentlemen, die sich auf der Straße begegneten.
»Gib auf dich acht«, sagte Mycroft. »Und tu, was Mr Crowe dir sagt. Deine Mitarbeit bei diesem Unternehmen ist äußerst wichtig. Wir können vielleicht noch nicht sagen, wie wichtig, aber denk daran, dass niemand außer dir diese skrupellosen Amerikaner identifizieren kann. Bestenfalls handelt es sich bei ihnen bloß um Kriminelle und politische Flüchtlinge, die verhaftet und für ihre Verbrechen verurteilt werden müssen. Schlimmstenfalls ist da jedoch eine große Verschwörung im Gange. Eine Verschwörung, die im Keim erstickt werden muss, damit sich die labile
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