Young Sherlock Holmes 2
politische Lage in Amerika nicht weiter verschlimmert. Und: Vergiss um Himmels willen nicht, dich auch ein bisschen zu amüsieren. Schließlich bekommen nicht viele Kinder in deinem Alter die Chance, ins Ausland zu reisen.«
Dann langte er in seine Tasche und zog ein kleines Buch hervor. Er überreichte es Sherlock und sagte: »Du wirst etwas brauchen, um dir die Zeit während der Überfahrt zu vertreiben. Das ist eine Ausgabe von
Der Staat
. Der berühmte griechische Philosoph Platon hat es verfasst. Es ist in dramatisierter Form geschrieben und besteht aus einer Reihe von Dialogen zwischen Platons Lehrer Sokrates und anderen Gelehrten, in denen sie die Bedeutung von Gerechtigkeit diskutieren und die Frage erörtern, ob gerechte Menschen glücklicher sind als ungerechte. Platon stellt in den Dialogen auch das Modell einer Gesellschaftsordnung vor, an deren Spitze Philosophenkönige regieren, und er diskutiert darin die Rolle des Philosophen und Dichters in der Gesellschaft.
Der Staat
ist eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie, und ich empfehle dir, das Werk gründlich zu studieren.«
»Ist es übersetzt?«, fragte Sherlock skeptisch.
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Mycroft verblüfft. »Ich weiß schließlich, wie schnell du liest. Wäre es übersetzt, hättest du es an einem Nachmittag durch. Aber wenn du es während der Lektüre erst übersetzen musst, bin ich ziemlich zuversichtlich, dass schon ein Großteil der Reise hinter Euch liegen wird, bevor du ans Ende gekommen bist. Außerdem hängt die Qualität von Übersetzungen immer sehr von den Fähigkeiten des Übersetzers ab. Wenn du ein in einer fremden Sprache verfasstes Werk lesen und es richtig verstehen willst, musst du diese Sprache lernen.«
Er zögerte. »Da ich weiß, wie sehr du dich für das Groteske und Kriminelle interessierst, möchte ich noch hervorheben, dass ganz im Gegensatz zu Platon, der erst sehr spät an Altersschwäche gestorben ist, sein Lehrer Sokrates einem gewaltsamen Tod zum Opfer fiel, und zwar als er von den griechischen Behörden gezwungen wurde, Gift zu trinken. Ich habe keine Ahnung, ob dir das bei der Lektüre des Buches helfen wird, aber in Kenntnis deiner Vorliebe fürs Melodramatische gebe ich dir diese Information als Geschenk mit auf den Weg. Mach damit, was du willst.«
»Dann auf Wiedersehen«, sagte Sherlock und musste schlucken. Er wusste nicht, ob er die Worte als Feststellung oder als Frage gemeint hatte, aber Mycroft wandte für einen Moment mit feucht schimmernden Augen den Blick ab.
»Sherlock«, sagte er. »Ich werde niemals eigene Kinder haben, denn ich bin viel zu eigenbrötlerisch und Veränderungen gegenüber zu intolerant, um mit anderen zusammen in einem Haus zu leben. Aber wenn ich jemals einen Sohn hätte, könnte ich ihn nicht mehr lieben als dich. Pass auf dich auf. Pass gut auf dich auf.«
Und dann war es Zeit zum Aufbruch. Sie gingen über die Gangway, die vom Pier hinauf zum Schiffsdeck führte, an Bord. Oben angekommen, wurden zunächst ihre Tickets kontrolliert. Dann geleitete man sie auf Holztreppen ins Schiffsinnere hinab und führte sie über fensterlose Korridore zu den Kabinen. Zuerst gelangten sie zu Virginias Kabine, in der bereits ihr Gepäck auf sie wartete. Nur war von ihrer Mitreisenden noch nichts zu sehen. Dann ging es weiter zur Kabine, die sich Sherlock und Amyus miteinander teilen würden. Die Räume waren holzvertäfelt und mit knapp drei Metern Breite ziemlich klein. An der einen Wand befanden sich zwei übereinanderliegende Kojen, und gegenüber stand ein bequemes Sofa. An beiden Seiten der Kabine gab es jeweils einen Waschtisch mit Spiegel. Durch ein Bullauge über dem Sofa gelangten Licht und Luft herein. Wie Sherlock mit einer gewissen Beklommenheit registrierte, ließ sich das Bullauge fest zuschrauben. Das war wahrscheinlich für den Fall eines Sturmes gedacht. Wie oft mochten solche Stürme wohl vorkommen? Und wenn ein Sturm länger als ein paar Stunden dauerte, wie würden sie dann frische Luft bekommen?
Amyus Crowe nahm die Kojen in Augenschein. »Am besten nehme ich die untere und du die obere«, knurrte er. »Wenn ich bei schwerem Seegang rausfalle, würde ich es vorziehen, nicht allzu tief zu stürzen. Und außerdem bringe ich eine Menge mehr auf die Waage als du.« Sherlock kamen wieder die Überlegungen in den Sinn, die er soeben über das Bullauge und mögliche Stürme angestellt hatte, als er wahrnahm, dass beide Kojen außen
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