Young Sherlock Holmes 2
Hals- und Nackenmuskeln waren völlig verkrampft, und die Fingerspitzen kribbelten an den Punkten, mit denen er die Katzendarmsaiten heruntergedrückt hatte. »Ich habe doch nur herumgestanden!«, jammerte er. »Wieso fühle ich mich, als hätte ich ein Wettrennen hinter mir?«
»Körperertüchtigung hat nicht zwangsläufig etwas mit Fortbewegung zu tun«, sagte Rufus. »Sondern mit Muskeln, die sich an- und wieder entspannen. Fette Musiker trifft man selten. Und zwar deswegen, weil ihre Muskeln, obwohl sie nur sitzen oder auf der Stelle stehen, permanent in Anspannung sind.« Er hielt inne, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. »Mit Ausnahme von Schlagzeugern«, sagte er schließlich. »Die werden einfach fett.«
»Und was kommt als Nächstes?«
»Als Nächstes«, erwiderte Rufus, »gibt es Mittagessen.«
Während Rufus seinen Violinenkasten zurück in die Kabine brachte, machte Sherlock sich auf, um nach Amyus Crowe Ausschau zu halten. Er begegnete dem großgewachsenen Amerikaner schließlich vor dem Eingang zum Salon. Von Virginia jedoch war keine Spur zu sehen. Als sie am großen Speisetisch saßen, stellte Sherlock Crowe seinen neuen Bekannten vor.
»Hocherfreut, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Crowe und schüttelte Rufus die Hand. »Sie sind offensichtlich Musiker. Ein Violinist.«
»Sie haben mich spielen gehört?«, fragte Rufus lächelnd.
»Nein, aber Sie haben frischen Staub auf Ihrer einen Schulter. Meiner Erfahrung nach kann Staub auf dem Jackett eines Mannes dreierlei bedeuten: Er ist Lehrer, er spielt Billard, oder er spielt Violine. Meines Wissens gibt es keine Billardtische an Bord dieses Schiffes, und ich wüsste nicht, dass genug Kinder an Bord sind, dass es sich lohnen würde, einen Unterrichtsraum einzurichten.«
Sherlock warf einen prüfenden Blick auf die Schulterpartie seiner Jacke. In der Tat, die Stelle, auf der die Violine gelegen hatte, war von feinem Staub überzogen. Er zerrieb etwas davon zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Substanz war bernsteinfarben und fühlte sich klebrig an.
»Das ist keine Kreide«, sagte er. »Aber was dann?«
»Kolophonium«, erklärte Rufus.
»Eine Harzsorte«, mischte Crowe sich ein. »Unter Musikern auch als ›Violinenharz‹ bekannt. Es wird aus Kiefergewächsen gewonnen und dann gekocht und gefiltert, bevor es ähnlich wie Seife zu einem Block geformt wird. Violinenspieler bestreichen ihre Bögen damit. Die durch das Harz verursachte Haftung zwischen Bogen und Saiten ist es, die die Violinensaiten zum Schwingen bringt. Das Harz trocknet beim Spielen aus und wird zu Staub, der sich dann unter anderem auch auf der Schulter absetzt.« Er blickte auf Sherlocks Jacke und runzelte die Stirn. »Auch du hast offensichtlich Violine gespielt. Oder nein, du hast
gelernt
, Violine zu spielen.«
»Rufus … Mr Stone … hat mich unterrichtet.«
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Mr Crowe?«, fragte Rufus. »Ich dachte, wir könnten uns beide damit die Zeit etwas vertreiben.«
»Hab mir nie viel aus Musik gemacht«, knurrte Crowe. »Das einzige Lied, das ich kenne, ist eure Nationalhymne. Und das nur, weil die Leute immer aufstehen, wenn sie gespielt wird.« Er blickte unter seinen buschigen Augenbrauen hervor und mustere Sherlock. »Ich hatte eigentlich vor, unseren Unterricht hier auf dem Schiff fortzusetzen. Aber Virginia findet nicht gerade sehr großen Gefallen an der Reise.« Er schüttelte seinen Kopf. »Ich weiß nicht genau, ob ich es schon mal erwähnt habe, aber ihre Mutter – meine Frau – ist auf unserer letzten Transatlantikreise gestorben. Das war auf der Überfahrt von New York nach Liverpool. Die Erinnerung lastet schwer auf ihrer Seele. Und auf meiner.« Er seufzte. »Das mit den Erinnerungen ist schon eine komische Sache. Der Mensch ist in der Lage, Erinnerungen an fast alles erst einmal beiseite zu schieben und zu ignorieren. Aber manchmal kann schon die kleinste Sache sie wieder an die Oberfläche bringen. Normalerweise sind es Gerüche und Klänge, die Erinnerungen am ehesten wieder wecken. Ginnie hat nun eine ganze Weile schon nicht mehr von ihrer Mutter gesprochen. Doch die Gerüche hier auf dem Ozean und dem Schiff haben anscheinend alles wieder hochkommen lassen.«
»Es tut mir leid«, sagte Sherlock, was sich irgendwie unangemessen anhörte. Aber ihm fiel nichts anderes ein, was er hätte sagen können.
»Manchmal stoßen uns eben schlimme Dinge zu«, sagte Crowe. »Das ist eine allgemein bekannte
Weitere Kostenlose Bücher