Young Sherlock Holmes 2
Grundwahrheit des menschlichen Daseins.« Wieder seufzte er. »Ich vertraue darauf, dass du dich ausreichend der Übersetzung des Buches widmest, das dein Bruder dir gegeben hat«, sagte er. »Und ich werde versuchen, ein oder zwei Stunden am Tag mit dir zu verbringen, um dir zu zeigen, was sich hier auf dem Schiff mit offenen Augen und Ohren so alles lernen lässt. Allerdings werden die Gelegenheiten für richtige Unterrichtsstunden knapp sein. Die übrige Zeit bleibt dir überlassen. Nutze sie, wie du magst.«
Der Rest der Mahlzeit verlief in unangenehmem Schweigen, und sobald das Essen beendet war, entschuldigte sich Sherlock. Er hatte das Gefühl, dass er Amyus Crowe irgendwie enttäuscht hatte, und er wollte diese Enttäuschung nicht noch vergrößern, indem er sich geradewegs wieder in den Violinunterricht zurückbegab. Dem leichten Nicken nach zu schließen, mit dem Rufus ihn bedacht hatte, als er den Salon verließ, wusste der Violinenspieler, was in ihm vor sich ging.
Sherlock verbrachte eine Stunde auf einem Liegestuhl an Deck und arbeitete sich durch die schwierige Lektüre von Platons
Der Staat
. Der Übersetzungsprozess vom Griechischen ins Englische war so mühselig, dass er kaum den Sinn von dem verstand, was er da las. Es gelang ihm zwar, die richtige Bedeutung der einzelnen Wörter herauszubekommen, doch am Ende des Satzes hatte er jedes Mal vergessen, wie dieser eigentlich begonnen hatte, und er verstand nicht, was Platon damit hatte sagen wollen.
Schließlich, als er gerade mit einer besonders schwierigen transitiven Verbalkonstruktion zu kämpfen hatte, blickte er auf und sah einen weiß uniformierten Steward neben sich stehen, der ein Tablett in der Hand hielt. Es war der gleiche Mann, den er nach dem Weg gefragt hatte und der am Abend zuvor beim Dinner serviert hatte.
»Kann ich Ihnen irgendetwas bringen, Sir?«, fragte der Steward.
»Ein griechisches Wörterbuch vielleicht?«
Das von Falten durchzogene und sonnengebräunte Gesicht des Stewards ließ keine Regung erkennen. »Ich fürchte«, sagte er, »dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann, Sir. Wir haben zwar eine Bibliothek an Bord, doch ich glaube nicht, dass dort ein griechisches Wörterbuch zu finden ist – erst recht kein
altgriechisches
Wörterbuch, was Sie meiner Vermutung nach bräuchten.«
»Kennen Sie jedes Buch, das in der Bibliothek steht?«, fragte Sherlock.
»Ich fahre schon seit dem Stapellauf auf diesem Schiff«, erwiderte der Steward. »Ich kenne nicht nur jedes Buch in der Bibliothek, sondern auch jeden Cocktail auf der Karte, jede Planke an Deck und jede Niete im Schiffsrumpf.« Er nickte. »Grivens ist mein Name, Sir. Wenn Sie irgendetwas brauchen, fragen Sie mich einfach.«
Sherlocks Blick wurde von der Hand angezogen, die das Tablett hielt. Am Handgelenk konnte Sherlock eine Tätowierung erkennen, die sich weiter den Arm hinaufzog, bis sie sich im Dunkeln des Ärmels verlor. Es handelte sich um ein aus winzigen Schuppen bestehendes Muster, dessen zartes, goldgeflecktes Blau im Sonnenlicht leuchtete.
Dieselbe Farbe hatte Sherlock am Handgelenk der Person wahrgenommen, die ihn am Tag zuvor heimlich beobachtet hatte. War das nun Zufall oder nicht?
Grivens merkte, wohin Sherlocks Blick geglitten war. »Stimmt etwas nicht, Sir?«
»Entschuldigung.« Sherlock dachte fieberhaft nach. Es war zu offensichtlich gewesen, dass ihm etwas Merkwürdiges aufgefallen war – ein Patzer, den er rasch kaschieren musste. »Ich hab da gerade Ihre … Ihre Tätowierung gesehen. Mein … mein Bruder … hat eine, die genauso aussieht.« In Gedanken formulierte er rasch eine an Mycroft gerichtete Entschuldigung, denn sein Bruder war der letzte Mensch auf Erden, der sich eine Tätowierung machen lassen würde. Einmal abgesehen vielleicht von Tante Anna.
»Hab sie in Hongkong stechen lassen«, erklärte Grivens. »Das war noch, bevor ich auf der
Scotia
angeheuert hab.«
»Sie ist wunderschön.«
»Hat ein runzeliger kleiner Chinese gemacht, der in einer der finsteren Seitengassen in der Nähe des Marktplatzes in Kowloon haust«, fuhr der Steward fort. »Ist unter den Seeleuten auf allen Weltmeeren bekannt. Niemand kann ihm das Wasser reichen, niemand auf der ganzen Welt. Er kann unglaubliche Farben zusammenmischen. Jedes Mal, wenn ich bei einem Seemann eine Tätowierung sehe, die er gemacht hat, oder ein anderer meine sieht, nicken wir uns einfach nur kurz zu, weil wir wissen, dass wir bei dem gleichen kleinen Chinesen
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