Young Sherlock Holmes 2
für den er direkt und unbestreitbar verantwortlich war?
»Ich bin nicht das, was man allgemein als religiös bezeichnet«, sagte er schließlich. »Ich glaube nicht, dass es eine von Gott gegebene Instruktion gibt, die da lautet: ›Du sollst nicht töten!‹ Aber vermutlich glaube ich daran, dass die Gesellschaft besser funktioniert,
wenn
es Gesetze gibt und die Leute nicht einfach so durch die Gegend spazieren und andere Menschen umbringen können. Das ist Teil von dem, was Platon in
Der Staat
ausführt, das Buch, das mein Bruder mir zum Lesen gegeben hat. Der Steward allerdings hat versucht, mich zu töten, und hätte
ich
ihn nicht umgebracht, hätte er mich auch nicht verschont. Ich habe es mir nicht
ausgesucht
, ihn zu töten. Er hat mit dem Kampf angefangen, nicht ich.«
Crowe nickte. »Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte er.
»War das dann also die richtige Antwort?«
»Es gibt keine richtige Antwort, mein Sohn. Zumindest, soweit ich es beurteilen kann. Es ist ein Dilemma: Die Gesellschaft funktioniert, weil die Leute Regeln befolgen und nicht umherziehen und sich gegenseitig umbringen. Doch wenn Leute beschließen, die Regeln zu missachten, was soll man dann machen? Lässt man ihnen ihr Verhalten einfach durchgehen, oder bekämpft man sie mit den gleichen Waffen, mit denen sie gegen dich vorgehen? Entscheidest du dich für Ersteres, werden sie die Herrschaft an sich reißen, weil sie immer dazu bereit sind, mit härteren und schmutzigeren Methoden zu kämpfen als du. Wählst du die zweite Möglichkeit, wie verhinderst du dann, dass du genauso schlecht wirst wie sie?« Er schüttelte den Kopf. »Den einzigen Rat, den ich dir schlussendlich geben kann, ist dieser: Wenn du an einen Punkt gelangst, an dem das Leben eines Menschen bedeutungslos für dich ist, bist du zu weit gegangen. Solange der Tod dir zu schaffen macht, solange du verstehst, dass der Tod des anderen nicht deine erste, sondern deine allerletzte Handlungsoption ist, bist du vermutlich noch auf der richtigen Seite.«
»Meinen Sie, Mycroft hat gewusst, dass so etwas passieren würde?«, fragte Sherlock. »Glauben Sie, er hat mir deshalb das Buch gegeben?«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Crowe. »Aber dein Bruder ist ein weiser Mann. Ich denke, er wusste, dass du dir zu irgendeinem Zeitpunkt diese Fragen stellen würdest, und er wollte sicherstellen, dass du das Werkzeug hast, um sie zu beantworten.«
10
Obwohl es gerade erst Nachmittag war, legte Sherlock sich eine Weile schlafen. Es war ein unruhiger Schlaf, angefüllt mit Bildern von Matty, der hilflos und gefesselt im Dunkeln vor sich hinweinte und sich fragte, wo nur seine Freunde blieben. Als Sherlock aufwachte, stellte er fest, dass seine Wangen nass waren. Anscheinend hatte er im Schlaf geweint, und er brauchte einen Augenblick, um sich daran zu erinnern, wo er sich befand und was passiert war.
Seine Muskeln schmerzten, die Lungen brannten, und an seinem Hals zeichneten sich dicke Blutergüsse an den Stellen ab, wo Grivens zugedrückt hatte. Er horchte in sich hinein, um festzustellen, ob er so etwas wie Entsetzen über das empfand, was er getan hatte. Aber da gab es kein solch starkes Gefühl. Bedauern allerdings schon. Er bedauerte die Tatsache, dass ein Mann umgekommen war. Aber das war auch alles.
Als er so dalag und an Grivens dachte, um sich von seinen Sorgen um Matty abzulenken, ertappte er sich dabei, wie er über die blau schimmernde Tätowierung am Handgelenk des Stewards nachdachte. Diejenige, durch welche er erst darauf gekommen war, dass der Mann ihn beobachtete. Hatte sich Sherlock zuvor überhaupt jemals über Tätowierungen Gedanken gemacht, so waren sie in seiner Vorstellung eher etwas rein Dekoratives gewesen. Aber offensichtlich war das längst nicht alles. Denn sie stellten auch ein Mittel zur Identifizierung dar. Und in diesem Fall hatte eine Tätowierung ihm geholfen, einen Mann wiederzuerkennen, der ihn tags zuvor im Auftrag von Booth und seinen Männern beobachtet hatte. Und nach dem, was der Steward ihm erzählt hatte, konnte man einen Tätowierer an seinem Stil erkennen. Genau wie ein Bild von Vermeer oder Rubens. Oder von Vernet, dachte Sherlock, als ihm die Bilder in der Halle von Holmes Manor in den Sinn kamen. Unwillkürlich nahm die Idee einer Enzyklopädie der Tätowierungen in seinem Kopf Gestalt an, die mit Querverweisen auf den jeweiligen Entstehungsort und die ausführenden Künstler versehen war. Ob so etwas wohl überhaupt
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