Young Sherlock Holmes 2
einer Gaslampe oder einem Pferdetrog vorbeigegangen wäre. Dann blieb er stehen und blickte sich suchend auf der Straße um. Vermutlich um zu sehen, wo Sherlock abgeblieben war. Als er ihn nicht entdecken konnte, stieß er einen leisen Fluch aus. Dann stand er noch einen Augenblick unsicher da – nicht einmal zwei Meter von dem Jungen entfernt, den er suchte –, bevor er abrupt kehrtmachte und fortging.
Sherlock warf dem nächsten Zeitungsjungen seinen Zeitungsstapel vor die Füße. »Hier, verkauf die«, sagte er.
»Das ist die
Sun
«, sagte der Junge verblüfft. »Ich verkaufe nur den
Chronicle
.«
»Zeit, deine Produktpalette zu erweitern«, erwiderte Sherlock nur und eilte hinter Ives her.
Mit gebeugtem Kopf und die Hände in den Taschen vergraben, stürmte Ives davon. Er wirkte eindeutig missmutig. Vielleicht würde sein Auftraggeber, wer immer das auch sein mochte, verärgert darüber sein, dass er Sherlock aus den Augen verloren hatte. Dass er sich nicht zum Jellabee Hotel begab, bedeutete vermutlich, dass er nicht wusste, wo Sherlock und die anderen beiden untergebracht waren.
Mittlerweile stand die Sonne bereits über den Dächern der Gebäude und schien Sherlock nun direkt ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, Ives auf den Fersen zu bleiben, was gar nicht so leicht war. Doch dann – sie mussten so an die fünf Häuserblocks oder noch mehr zurückgelegt haben – bog Ives endlich von der Straße ab und steuerte auf eine Pension zu.
Unsicher sah Sherlock sich um. Er hatte keine Ahnung, ob dies nun Five Points war oder nicht. Doch so einladend wie die Gegend, in der das Jellabee Hotel lag, sah es hier definitiv nicht aus. Daran konnte auch die marode, schindelverkleidete Kirche mit dem schiefen Turm am Ende der Straße nichts ändern. Es stank immer noch, aber er war sich nicht sicher, ob das nun von Terpentindestillerien und Schlachthöfen herrührte oder ob es sich nur um den allgemeinen Verwesungs- und Abwässergestank handelte, der wie ein unsichtbarer Nebel über New York zu schweben schien. Auf jeden Fall sah dieser Ort gefährlich aus. Die Zeitungsjungen waren auf einmal verschwunden, dafür standen an den Straßenecken Männer in gerippten Hemden und schmutzigen Hosen, die jeden, der vorbeiging, kritisch musterten. Irgendwo spielte jemand auf einer kläglich klingenden Trompete. Das Instrument hörte sich total verstimmt an, doch mit dieser Gegend stimmte auch so viel anderes nicht, dass es irgendwie schon wieder passte.
Sherlock beschloss, sich noch einmal besser an die Umgebung anzupassen. Er schlüpfte in einen Durchgang zwischen den Häusern, rieb mit seiner Mütze im Dreck herum und riss sich einen Jackenärmel auf, so dass das Futter hervorquoll.
Das sollte reichen. Jetzt sah er so aus, als würde er hierhergehören. Er kehrte zur Straße zurück, wobei er jetzt so tat, als würde er leicht humpeln, um seine Tarnung noch einmal zu optimieren. Er steuerte direkt auf die Pension zu. Die Tür stand offen, und er blickte hinein.
Im Gegensatz zum Jellabee gab es hier keine Lobby. Wenn er geradewegs hineinging, hätte er nur die Wahl zwischen mehreren Zimmertüren und der schmucklosen Treppe. Aber einfach hereinzuspazieren, an Türen zu klopfen und nach Matty zu fragen kam natürlich nicht in Frage. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen.
Er blickte sich um, und sein Blick fiel auf eine Metallkonstruktion an der Außenseite des gegenüberliegenden Gebäudes, die fest im Mauerwerk verankert war – wahrscheinlich eine Art Feuertreppe. Leitern, die jeweils an schmalen Eisenbalkonen montiert waren, führten von einem Stockwerk zum nächsten.
Wenn er da hinaufkletterte, wäre es vielleicht möglich, in einige Zimmer der Pension zu spähen. Jedenfalls wenn die Vorhänge geöffnet und die Fenster sauber genug waren.
Er überquerte die Straße, wartete einen Moment, bis die Luft rein war und kletterte dann schnell über die Feuertreppe in den ersten Stock empor. Oder war es der zweite? Er war sich nicht sicher.
Er kauerte sich auf den Metallrost des Balkons und blickte über die Straße. Zum Glück waren in der Pension gegenüber in keinem der vier Fenster die Vorhänge zugezogen. In einem Zimmer lief ein Mann unruhig auf und ab, den Sherlock nicht kannte. Aus dem Fenster des nächsten Zimmers starrte eine Frau heraus. Sie schien so etwas wie ein Nachthemd zu tragen. Traurig lächelnd, erwiderte sie Sherlocks Blick. Die anderen beiden Räume waren leer und
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