Young Sherlock Holmes 2
können. Selbst der Fahrkartenkontrolleur, der versucht hatte, sie abzufangen, war verschwunden – vermutlich um die Polizei zu holen.
»Wir müssen uns im Zug nach einem Schaffner umsehen«, sagte Virginia und war schon dabei, die Treppe zum Waggon hochzusteigen. »Der kann dafür sorgen, dass der Zug nicht abfährt.«
Sherlock blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er war sich nicht sicher, ob sie das Ganze auch wirklich durchdacht hatte, aber andererseits konnte er mit keiner besseren Idee aufwarten.
Im Waggon verlief zwischen den mit Stoff gepolsterten Holzsitzen ein Gang in der Mitte.
Auf halbem Weg den Gang hinunter saßen auf gegenüberliegenden Sitzen Ives, Berle, John Wilkes Booth und – der Kontur des Hinterkopfes nach zu schließen – Matty. Die Männer waren in eine angeregte Unterhaltung verstrickt. Rasch duckte sich Sherlock zwischen zwei Sitze, bevor man ihn entdeckte.
Virginia blickte sich nach dem Schaffner um. Im nächsten Augenblick ertönte draußen eine Trillerpfeife – ein scharfer schriller Ton, bei dem Sherlock beinahe das Herz stehenblieb.
Und dann setzte sich der Zug auch schon in Bewegung.
12
Sherlocks erster Instinkt war, zurück zur Tür zu rennen und aus dem fahrenden Zug zu springen. Er griff Virginias Arm und wollte sie mit sich ziehen, doch sie widersetzte sich.
»Wir müssen hier raus!«, zischte er. »Wir haben keine Fahrkarten, und wir würden ohne deinen Vater fahren!«
»Wir können beim Schaffner Karten lösen«, erwiderte sie, »oder ihm erzählen, dass unser Vater in einem anderen Waggon ist und die Karten hat. Und wenn wir haltmachen, können wir Vater ein Telegramm schicken und ihm mitteilen, wo wir sind. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir Matty und seine Entführer nicht aus den Augen lassen. Sonst haben wir sie nämlich wahrscheinlich für immer verloren. Wir müssen ihnen so lange auf den Fersen bleiben, bis sie ihr Ziel erreicht haben.«
»Aber …«, begann er.
»Vertrau mir! Ich bin hier zu Hause. Ich weiß, wie die Dinge hier laufen. Und ich bin schon mal alleine Zug gefahren. Wir werden klarkommen.«
Sherlock gab sich geschlagen. Unglückliche Umstände hatten sie an diesen Ort verschlagen, aber nun, da sie schon einmal hier waren, sollten sie das Beste aus der Situation machen. Auszusteigen und zum Hotel zurückzukehren würde praktisch alle bisherigen Anstrengungen zunichte machen, die sie mit ihrer Reise nach Amerika auf sich genommen hatten.
»Na schön«, gab er nach. »Bleiben wir.«
»Jetzt haben wir sowieso keine Wahl mehr«, sagte Virginia und zeigte aus dem Fenster. Der Bahnsteig war mittlerweile verschwunden, und während die Bahnstrecke lauter breite, dreckige Straßen kreuzte, nahm der Zug immer mehr Fahrt auf. Alle zwanzig oder dreißig Meter ratterten die Waggonräder mit lautem
Klack-Klack, Klack-Klack
über die Fugen der Schienen.
Sherlock blickte den Gang entlang zu den Männern zurück, die Matty in ihrer Gewalt hatten. »Sie haben es sich bequem gemacht«, sagte er. »Wir sollten uns einen Platz suchen und überlegen, was wir als Nächstes tun. Sollen wir ihnen nur folgen oder auch versuchen, Matty zu befreien?«
»Hängt davon ab, was passiert«, erwiderte Virginia. »Warum, glaubst du, haben sie sich so schnell zum Bahnhof aufgemacht?«
»Das ist wohl meine Schuld«, gestand Sherlock. »Einer von ihnen hat mich auf der Straße gesehen. Aber ich konnte mich vor ihm verstecken, woraufhin er schnurstracks in ihr Hotel zurückgekehrt ist und sich mit den anderen beratschlagt hat. Sie müssen sich dann entschlossen haben, sofort zu verschwinden. Und im gleichen Moment hat Matty mir mitgeteilt, wohin sie aufbrechen würden.« Er schwieg kurz und blickte sich um. »Da vorne sind zwei freie Plätze. Lass uns wenigstens hinsetzen.«
Die Sitze wiesen mit den Rücken zu Matty und seinen Entführern. Nachdem Virginia und Sherlock Platz genommen hatten, sah Sherlock aus dem Fenster. Weiter vorne fuhr der Zug gerade in eine Kurve, und Sherlock konnte einen Blick auf die Lokomotive werfen, die den Zug zog. Naiverweise war er davon ausgegangen, dass sie genauso wie diejenigen aussah, die in England zwischen Farnham, Guildford und London verkehrten. Aber diese hier war anders. Die zylindrische Kesselgrundform war zwar die gleiche, doch statt des bei britischen Loks üblichen kleinen Schornsteins ragte ganz vorne am Kessel dieser Lokomotive ein mächtiges, trichterförmiges Gebilde empor. Und vor der Lok war ein bizarr
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