Young Sherlock Holmes 2
gleichen Abstand zueinander angebracht, soweit er es beurteilen konnte. Wenn er wüsste, wie groß dieser Abstand war, könnte er mittels der Zeitinformation, die er nun hatte, herausfinden, wie schnell der Zug fuhr. Nicht, dass das mehr wäre als einfach nur eine interessante Information, aber es würde helfen, sich die Zeit zu vertreiben.
Eine kleine Stadt sauste vorbei und verschwand ebenso schnell wieder, wie sie aufgetaucht war. Alles was Sherlock mitbekommen hatte, waren flüchtige Eindrücke von flachen Holzgebäuden, vierrädrigen Karren und jeder Menge Pferde.
Das gleichmäßige Schaukeln des Zuges machte ihn schläfrig. Den ganzen Weg zurück zum Hotel zu rennen hatte vorhin viel Kraft gekostet, und die permanente Anspannung begann nun ihren Tribut zu fordern. Sein Körper sehnte sich nach Ruhe. Er musste für eine Weile eingenickt sein, denn als er das nächste Mal aus dem Fenster blickte, sah er einen langen, steil abfallenden Abhang hinunter. Unten in der Tiefe funkelte das glitzernde Band eines Flusslaufes. Der Zug befand sich gerade auf einer Brücke und überquerte eine Schlucht. Die Brücke war aus Holz gebaut und kaum breiter als der Zug.
Virginia spürte seine plötzliche Anspannung. »Keine Angst«, beruhigte sie ihn. »Es ist absolut sicher. Diese Brücken stehen schon Jahre.«
Kurz darauf wurde der Zug allmählich langsamer.
»Wir erreichen wohl einen Bahnhof«, sagte Virginia.
»Oder es ist ein Bison auf den Schienen«, erwiderte Sherlock. Augenblicklich begann er diverse Möglichkeiten durchzuspielen. Ein Bahnhof würde ihnen eine ganze Reihe von Optionen eröffnen. Sei es nun, dass sie sich nur einen Happen zu essen besorgten, Amyus Crowe vielleicht ein Telegramm schicken konnten oder aber sich sogar eine Möglichkeit ergab, einen Befreiungsversuch für Matty zu unternehmen. Wenn es ihnen irgendwie gelang, ihn aus dem Zug zu schaffen, könnten sie entweder in der Stadt auf Amyus Crowes Ankunft warten oder einfach den nächsten Zug zurücknehmen – vorausgesetzt natürlich, dass auf dieser Strecke mehr als ein Zug pro Tag verkehrte. Oder in der Woche. Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie häufig die Züge in diesem Land fuhren.
»Wenn wir da sind, müssen wir raus auf den Bahnsteig«, sagte er. »Falls sich eine Gelegenheit ergibt, werden wir Matty befreien.«
Der Zug verlangsamte sich noch mehr. Sie kamen an einem riesigen Feld vorbei, auf dem hohe Pflanzen mit knollenförmigen Spitzen wuchsen. Der einzige Zaun, der zu sehen war, erstreckte sich von der Bahnlinie bis zum Horizont. Plötzlich zerriss der Klang der Zugdampfpfeife die Luft: ein trauriger Heulton, wie der Klageruf einer mythischen Kreatur. Vereinzelte Scheunen und Häuser zogen vorüber, dann folgten weitere Häuser, bis sich schließlich eine ganze Stadt materialisierte, als der Zug langsam neben einem Bohlenweg zum Halten kam, der kaum höher war als der Erdboden.
»Los, lass uns aussteigen«, sagte Sherlock, als die laute Stimme des Schaffners aus der Ferne ertönte: »Dies ist Perseverance, New Jersey. Zehn Minuten Aufenthalt, Ladys und Gentlemen. Zehn Minuten Aufenthalt. Dies ist Perseverance.«
Sherlock zog Virginia von ihrem Sitz empor und bugsierte sie zur Tür. Gleich darauf wurde die Tür von außen geöffnet, und die beiden sprangen auf den Bohlenweg hinunter.
»Du hast das Geld und besorgst was zu essen«, sagte er. »Ich werde aufpassen, dass sie nicht unbemerkt aussteigen.«
Auf dem Bohlenweg wimmelte es von Menschen in verstaubter Kleidung, die zum größten Teil aus Drillich, Kord oder einem Baumwollstoff bestand, der dem bunten Karomuster der Schotten, dem Tartan, ähnlich sah. Sherlock schob sich durch die Menge und begab sich in den Schatten einer Mauer. Einige Reisende verließen die Waggons, um sich etwas zu essen zu besorgen oder um sich nur einmal kurz die Beine zu vertreten, während andere sich anschickten, den Zug zu besteigen. Der Schaffner schritt unterdessen an den Waggons entlang und sorgte dafür, dass jeder wusste, wohin er zu gehen hatte.
Ives, der korpulente Mann mit dem kurzgeschorenen blonden Haar, stieg zusammen mit Matty aus dem Zug. Berle, der Doktor, passte vermutlich solange auf den verrückten Booth auf. Matty sah blass aus, doch schien Ives ihn halbwegs anständig zu behandeln. Zumindest stieß er ihn nicht herum oder schlug ihn. Allerdings ließ er seine Hand auch keinen Augenblick von Mattys Schulter. Er schob den Jungen auf eine Reihe kleiner Holzbauten
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