Young Sherlock Holmes 2
erschrocken nach Luft schnappte und Berle einen Fluch ausstieß. Sherlock hielt sich mit der linken Hand am Türrahmen fest und stemmte den linken Fuß in den Winkel zwischen Waggonwand und Boden. Gegen den Widerstand des Windes, der ihm entgegenpfiff und ihn nach hinten drückte, ließ er sich in einem halbkreisförmigen Bogen in den freien Raum zwischen den Waggons schwingen. An der Waggonwand links von ihm hatte er zuvor eine Leiter wahrgenommen, die aufs Waggondach hinaufführte. Er streckte die freie rechte Hand nach der Leiter aus und registrierte gleich darauf erleichtert, wie seine Finger eine Sprosse zu fassen bekamen. Allerdings hing sein rechter Fuß immer noch frei in der Luft, und verzweifelt strampelnd versuchte er, damit die Leiter zu erwischen. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, stieß der Fuß endlich auf eine Sprosse. Er ließ den Türrahmen los und begann die Leiter hochzuklettern. Doch gerade als er den anderen Fuß hinterherziehen wollte, wurde dieser von jemandem am Knöchel gepackt. Sherlock trat nach unten aus und traf die Person offenbar ins Gesicht, woraufhin sich der Griff sofort löste.
Kurz darauf war er auch schon oben auf dem Dach des Zuges.
Nur mit größter Mühe konnte er sich im Fahrtwind auf den Beinen halten, und als er nach vorne blickte, sah er, wie der Zug gerade in eine Kurve fuhr. Der nach hinten wehende Rauch aus dem Schornstein brachte seine Augen zum Tränen und machte das Atmen schwer.
Er zögerte einen Moment. Anstatt sich gefangen nehmen zu lassen, hatte er sich für die einzig verbliebene Alternative entschieden: die Flucht. Aber seine Fluchtmöglichkeiten waren begrenzt. Er befand sich nach wie vor mit Ives und den anderen Männern im selben Zug – oder besser gesagt
auf
dem Zug –, und er hatte keinen Plan, was er als Nächstes tun sollte. Egal wohin er sich auch wandte, sie würden ihn finden. Finden und dann vermutlich umbringen. Und er konnte sich nicht einfach auf und davon machen, indem er zum Beispiel bei einer günstigen Gelegenheit einfach vom Zug in einen Fluss oder so sprang. Er musste Virginia und Matty retten.
Er wollte schon verzweifeln, aber mit etwas Willensanstrengung gelang es ihm, die dunklen Gedanken zunächst einmal zu verscheuchen. Dafür war später noch Zeit. Jetzt musste er nachdenken.
Wenn er auf den Waggondächern bis zur Lokomotive lief, konnte er womöglich den Lokführer alarmieren. Vielleicht fand er dann einen Weg, die Behörden zu benachrichtigen. Oder irgendwo die Weichen so umstellen zu lassen, dass sie zurück nach New York kamen. Oder irgendetwas anderes. Egal was!
Auf wackligen Beinen kraxelte er weiter nach vorne. Wie eine riesige Hand drückte der Fahrtwind auf seine Brust, doch er stemmte sich dagegen. Er musste einfach nach vorne kommen. Durch eine Unebenheit auf den Gleisen geriet der Zug ins Schaukeln, und Sherlock verlor fast den Halt. Einige Augenblicke lang schwankte er hin und her, und er machte sich so klein wie möglich, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten, bis er sich wieder sicher fühlte.
Na ja, jedenfalls
sicherer
, dachte er, als er schließlich den Blick über die Landschaft gleiten ließ, die in braunen und grünen Flecken an ihm vorbeihuschte.
Sie näherten sich einer Brücke, die aussah, als wäre sie aus Streichhölzern gebaut. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Doch gleich darauf blieb es ihm auch schon vor Schreck fast stehen. Denn vor ihm am Übergang zum nächsten Waggon tauchten plötzlich Ives’ Kopf und Schultern auf. Der Mann musste einfach unten den Waggon durchquert haben und dann die nächste Leiter hochgeklettert sein.
Ives stemmte sich aufs Dach empor und stellte sich aufrecht hin. Der vom Wind herangetragene Dampf der Lokomotive umwaberte ihn wie ein weißer Mantel.
»Du denkst nicht logisch, Junge«, schrie er. »Wohin willst du eigentlich? Unten bei den anderen ist es sicherer für dich.«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Sie brauchen nur einen von uns, um Amyus Crowe zu erpressen«, schrie er zurück. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich gleich drei Geiseln aufhalsen wollen.«
»Amyus Crowe«, sagte Ives. »Ist das dieser große Kerl, der mit dem weißen Anzug? Kannte seinen Namen bisher nicht, aber er ist ganz schön hartnäckig. Genau wie du.«
»Sie haben ja keine Ahnung, wie hartnäckig«, schrie Sherlock, obwohl er vor Angst fast wie gelähmt war.
Er blickte über die Schulter. Keine Spur von Berle oder dem anderen Mann. Doch
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