Young Sherlock Holmes 2
andere Gesichtsseite!« Vermutlich war er bereits seit New York – oder vielleicht sogar schon den ganzen Weg von Southampton – mit Booths Irrsinn konfrontiert worden und nun offensichtlich mit den Nerven am Ende. Sherlock musterte ihn. Er war gebaut wie ein Boxer und trug Hosen aus grobem Baumwollstoff, eine Weste aus dem gleichen Material und darunter ein kragenloses Hemd. Um seinen Hals hatte er ein leuchtend rotes Halstuch geschlungen.
»Lass ihn in Ruhe, Rubinek«, warnte ihn Berle. »Duke braucht ihn noch.«
Der Mann namens Rubinek wandte nun Sherlock den Blick zu. »Und was ist mit dem da?«, fauchte er. »Duke braucht den für rein gar nichts, und er hat zugegeben, dass er Ives umgebracht hat.« Er zog hinter dem Rücken einen Revolver hervor und richtete ihn auf Sherlock.
»Und was ist mit Gilfillan?«, fragte Berle. »Ist er auch tot? Er hat uns doch noch ein Telegramm geschickt.«
»Der ist in Polizeigewahrsam«, erwiderte Sherlock. Berle schloss für einen Moment die Augen. »Das wird ja immer unerfreulicher«, sagte er leise. »Duke wird nicht begeistert sein, und ich hab schon viele Geschichten gehört, was passiert, wenn er das nicht ist.«
»Was gibt’s da noch groß zu debattieren?«, fragte der anscheinend eher pragmatisch veranlagte Rubinek. »Der Zug ist nun mal weg, und wir sind hier. Also schaffen wir uns die Kinder vom Hals und gehen dann zu Duke.«
»Wir schaffen sie uns nicht vom Hals«, erwiderte Berle mit leiser, aber bestimmter Stimme. Jetzt, da Ives nicht mehr da war, hatte er offensichtlich das Sagen. »Duke wird sie ausquetschen wollen – um festzustellen, wie viel sie wissen. Und
dann
wird er sie vermutlich seinen Schoßtieren zum Spielen überlassen.«
»Ich würde sie trotzdem gerne umbringen«, grummelte Rubinek wie ein verwöhntes Kind, dem der heißbegehrte Keks verweigert wird.
»Zumindest haben wir Booth und dieses Ding hier«, sagte Berle, wobei er die Box in seiner Hand auf Augenhöhe hob und mit finsterem Blick anstarrte. »Hoffen wir, dass ihm das reicht«, seufzte er. »Okay, bringen wir es hinter uns.«
Berle ging ihnen voraus und steuerte auf einen runden Tisch auf der Veranda zu, der vor zwei Terrassentüren aufgestellt worden war. Auf der weißen Tischdecke standen eine Karaffe, die mit etwas gefüllt war, das wie Orangensaft aussah, ein Tablett mit Brötchen sowie einige Gläser. Um den Tisch herum standen schmiedeeiserne, weißlackierte Stühle. In einem Loch in der Tischmitte steckte ein weißer Parasol, der Schutz vor der sengenden Sonne bot.
Parasol
. Irgendwie schwirrte Sherlock das Wort beharrlich im Kopf herum. Es erinnerte ihn an etwas. Aber er kam einfach nicht darauf, was genau es nun war. Das war eben das Problem mit dem Gedächtnis, überlegte er. Es konnte nicht in unbegrenzter Menge Informationen aufnehmen. Wenn es doch nur eine Methode gäbe, alle Erinnerungen, die man nicht brauchte, zu löschen, um sie durch wichtigere zu ersetzen. Vielleicht sollte er einfach alles, was einmal wichtig werden könnte, in ein Notizbuch schreiben. Oder in eine ganze Reihe von Notizbüchern, alles in alphabetischer Reihenfolge geordnet, damit er es rasch wiederfinden konnte, wenn er es brauchte.
Offenbar versuchte er, indem er über etwas anderes nachdachte, Distanz zu dem zu gewinnen, was da gerade vor sich ging. Aber seine Bemühungen wurden jäh zunichte gemacht, als Rubinek ihn mit dem Revolverlauf auf einen der Stühle zustieß. »Setzen«, knurrte der Mann. Sherlock gehorchte. Matty und Virginia wurden jeweils neben ihm platziert. Gleich darauf setzten sich Berle und John Wilkes Booth links von Virginia, während Rubinek zu Mattys Rechten Platz nahm.
Womit, wie Sherlock registrierte, noch ein Platz für den mysteriösen Duke frei blieb.
»Mein Vater wird uns finden, wenn sie uns nicht freilassen«, sagte Virginia.
»Dein Vater ist dieser große Kerl im weißen Anzug, stimmt’s?« Berle blickte zunächst von Virginia zu Matty und dann weiter zu Sherlock. »Er ist nicht von euch allen der Vater, oder? Ich hab euch bis jetzt noch nie alle zusammen gesehen.« Er fixierte Matty noch genauer. »Wir haben dich genommen, weil wir dachten, das würde ihn davon abhalten, uns zu verfolgen. Mensch, hatten wir eine Ahnung! Wir hätten das Mädchen nehmen sollen.«
»Er hätte Sie trotzdem verfolgt«, sagte Virginia. »Das ist sein Job. Und auf Befehle reagiert er außerdem ausgesprochen allergisch.«
Berle wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich die
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