Young Sherlock Holmes 3
denke, er unterrichtet eben gerne«, sagte Sherlock. »Und du warst das einzige Publikum.«
»Meinetwegen, aber den Fehler mache ich nicht noch mal.«
»Hast du Virginia gesehen?«, fragte Sherlock.
»Schon einige Tage nicht mehr.«
»Sollen wir sie suchen gehen?«
Die Augen immer noch auf den Kanal gerichtet, schüttelte Matty den Kopf. »Ne, ich will lieber was essen.«
»Ich könnte dir eine Schweinefleischpastete kaufen«, bot Sherlock an.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als geriete Matty in Versuchung. Doch dann schüttelte er erneut den Kopf. »Du wirst nicht immer da sein«, sagte er. »Ich darf mich nicht darauf verlassen, dass mir ein anderer was zu essen besorgt. Ich muss das selbst schaffen. Also darf ich meine Talente nicht einrosten lassen. Nicht, wenn ich sichergehen will, jeder Zeit unbemerkt einen Blumenkohl oder einen Schinken organisieren zu können.«
»Aber es ist doch in Ordnung«, erwiderte Sherlock leise. »Es geht ja nicht um Mitleid, sondern Freundschaft.«
»Fühlt sich aber wie Mitleid an«, nuschelte Matty. »Und Mitleid akzeptier ich nicht. Niemals.«
Sherlock nickte. »Ich verstehe.« Er schaute sich um. »Ich werde jetzt mal zum Bahnhof rübergehen. Sehen wir uns nachher?«
»Hängt ganz davon ab, wann mein Mittagessen auftaucht«, erwiderte Matty finster.
Ohne richtig wahrzunehmen, wohin er sich eigentlich begab, zog Sherlock davon. Irgendwie verspürte er eine Unruhe in sich. Am liebsten hätte er sich sofort auf den Weg nach London gemacht. Aber er wusste, dass das bis zum nächsten Tag warten musste. Mycroft hatte sich in der Beziehung sehr bestimmt ausgedrückt.
Also schlenderte er eine Weile die High Street entlang und schob sich durch diverse Ansammlungen von Einheimischen, die entweder etwas kaufen oder verkaufen wollten oder einfach nur müßig auf ein Schwätzchen stehen geblieben waren. Er kam an Tavernen vorbei, in denen es hoch herging, obwohl es erst früher Nachmittag war, an Bäckereien, deren Schaufenster mit Backwerk überquollen, sowie an unterschiedlichsten Läden, in denen Obst und Gemüse, Werkzeuge, Saatgut oder erlesene und weniger erlesene Textilien feilgeboten wurden.
»Sherlock!«, hörte er plötzlich eine Stimme.
Überrascht wandte er sich um. Einen Moment lang erkannte er den großen schlanken Mann mit dem langen schwarzen Haar nicht, der ihn von der anderen Straßenseite aus anlächelte. Oder genauer gesagt, er wusste, dass er ihn kannte, er war sich nur nicht sicher, woher. Er musterte die Kleidung und die Hände des Mannes nach Zeichen, die auf seinen Beruf hindeuteten, so wie es Amyus Crowe ihm beigebracht hatte. Doch abgesehen von der abgewetzten linken Schulterpartie seiner geflickten Cordjacke und einzelnen, orangefarbenen Staubflecken unter seinen Fingernägeln waren keine Hinweise zu entdecken.
Obwohl …
»Mister Stone!«, rief er in dem Augenblick, als in seinem Gehirn die gesuchte Information aufblitzte. Den Spuren auf seiner Kleidung nach zu schließen, handelte es sich bei dem Mann um einen vom Glück verlassenen Violinisten.
Rufus Stones Lächeln wurde noch breiter und ließ den Goldzahn erkennen, an den sich Sherlock von ihrer gemeinsamen Fahrt über den Atlantik her erinnerte. Während der Reise, die sie erst nach New York und wenig später wieder zurück nach England geführt hatte, hatte Stone ihm zum Zeitvertreib das Violinenspiel beigebracht.
»Wie oft muss ich es dir denn noch sagen?«, rief Stone, als er sich daran machte, die Straße zu überqueren und dabei in permanentem Zick-Zack-Kurs vorbeiratternden Lastkarren und Pferdeäpfelhaufen auswich, die deren Zugtiere hinterlassen hatten. »Nur Arbeitgeber nennen mich Mister Stone. Und von dieser Spezies gab’s in den letzten Monaten weniger als ein Huhn Zähne im Schnabel hat.«
»Wie ist es Ihnen ergangen, seit sich unsere Wege in Southampton getrennt haben?« Sherlock versuchte, einen etwaigen mäkeligen Ton aus seiner Stimme herauszuhalten, es wie eine ganz normale Frage klingen zu lassen. Aber er war davon ausgegangen, dass Stone sich nach ihrer Ankunft in England eigentlich nach Farnham hatte begeben wollen, um sich dort als Geigenlehrer niederzulassen.
Stone verzog das Gesicht. »Tja, da muss ich wohl ein Geständnis machen. Ich war schon bereit, meinen Lebensmittelpunkt in diese Weltgegend hier zu verlegen. Doch dann wurde ich abgelenkt und bin stattdessen für ein paar Wochen nach Salisbury gegangen. Nur so viel sei gesagt, dass es da eine gewisse
Weitere Kostenlose Bücher