Young Sherlock Holmes 3
uns während der ganzen Zeit geschrieben. Schließlich haben sich unsere Wege dann wieder gekreuzt, und er ist mein vertrauenswürdigster Auslandsagent geworden.«
Er versank in kurzes Schweigen. »Wir waren Freunde, Sherlock«, fuhr er dann fort. »Wir waren die allerbesten Freunde. Bekannte hat man wie Sand am Meer. Aber solche Freunde begegnen einem nicht allzu oft im Leben. Und wenn sie einem begegnen, sollte man sie wertschätzen. Und genau deswegen ist es erforderlich, dass ich hier bin. Ich schulde es ihm einfach.«
»Ich verstehe«, erwiderte Sherlock, als sie sich an den Tisch setzten. »Oder zumindest glaube ich, dass ich es tue.«
»Natürlich tust du das. Du hast die ganze lange Reise nach New York auf dich genommen, um den jungen Matty Arnatt zu retten. Und nun«, sagte er und nahm die Speisekarte vom Oberkellner in Empfang, »sage mir, was du heute Abend essen möchtest. Wie man hört, sollen Fisch und Meeresfrüchte in dieser Stadt besonders gut sein.«
Das Essen war ausgezeichnet – gut genug, um selbst Mycroft zufriedenzustellen –, und Sherlocks Bruder erlaubte ihm sogar, ein Glas Wein zum Essen zu trinken. Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten: die verschiedenen Rebsorten, die sich zur Weinherstellung eigneten, die Art und Weise, wie Brandy, Sherry und Portwein entweder durch Destillation oder Aufspritzen von Wein gewonnen wurden, und über die Tatsache, dass Sekt erstmalig von Benediktinermönchen im sechzehnten Jahrhundert hergestellt worden war.
Sherlock spürte, wie sich seine angespannten Gefühle gegenüber seinem Bruder im Verlauf des Mahles allmählich lösten. Er empfand immer noch Ärger darüber, dass Mycroft und Rufus Stone hinter seinem Rücken agiert hatten. Aber ihm wurde bewusst, dass sich dieser Ärger eher gegen sich selbst richtete, weil er nicht von allein dahintergekommen war.
Er beschloss jedoch, sich eine Lektion hinter die Ohren zu schreiben:
Nimm niemals wieder etwas für bare Münze!
Als Mycroft sich gegen Ende des Mahls bei einem Glas Brandy und einer Zigarre entspannte, sagte Sherlock: »Ich gehe ins Bett. Wir sehen uns morgen.«
Mycroft nickte. »Schlaf gut. Morgen wird ein anstrengender Tag.« Er runzelte düster die Stirn. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas Offensichtliches übersehe. Kein sehr angenehmes Gefühl. Säße ich sicher und gemütlich daheim in London im Diogenes Club, würde ich mit Sicherheit sofort darauf kommen. Aber hier … mit all den Ablenkungen …« Er seufzte. »Vielleicht wird ja eine ordentliche Mütze Schlaf in einem bequemen Bett helfen. Gute Nacht, Sherlock.«
Sherlocks Zimmer war klein und befand sich in einem der oberen Stockwerke. Aber das machte nichts. Es war bequemer als seine Kammer in Holmes Manor, und kaum hatte er sich entkleidet, war er auch schon eingeschlafen. Und falls er überhaupt etwas träumte, so konnte er sich später nicht mehr daran erinnern.
Der nächste Morgen war klar und kalt. Immer noch lag Schnee auf den Straßen, doch die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel herab. Sherlock wusch sich, zog sich an und begab sich dann in dasselbe Restaurant hinab, in dem er mit Mycroft das Abendessen eingenommen hatte.
Mycroft saß mit Mr Kyte an einem Tisch. Er begrüßte Sherlock mit einem Nicken, als er das Restaurant betrat, und wandte sich dann wieder seiner Unterhaltung zu.
Sherlock blickte sich um. Mr Malvin und Miss Dimmock aßen zusammen, während Mrs Loran allein für sich saß. Sie erhaschte seinen Blick und warf ihm ein Lächeln zu, das er erwiderte. Er mochte sie: Sie schien ihn immer mehr wie einen Ersatzsohn zu behandeln.
Sherlock fragte sich, was es wohl mit dem bisher unerwähnten und fehlenden Mr Loran auf sich hatte. War er vielleicht gestorben? Mit einer anderen Frau durchgebrannt? Oder wartete er einfach nur zu Hause auf sie?
Die vier Bühnenarbeiter – Rhydian, Judah, Pauly und Henry – teilten sich zusammen einen Tisch und zankten sich um irgendetwas. Die Musiker hatten, nach Instrumenten getrennt, an drei Tischen Platz genommen: die Streicher an einem, die Blechbläser am anderen und die Holzbläser am dritten. Der Kapellmeister Mr Eves saß alleine.
Ungeachtet der Tatsache, dass auch er zu den Streichern gehörte, saß Rufus Stone ebenfalls allein an einem Tisch. Er winkte, als Sherlock ihn erblickte, und wies auf den leeren Stuhl an seinem Tisch. Einen langen Moment überlegte Sherlock, ob er sich ebenfalls einen Tisch für sich suchen sollte,
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