Young Sherlock Holmes 3
Mündung auszumachen. Er vermutete, dass es sich um etwas Bogenförmiges handeln würde. Um eine runde Öffnung, die auf die Moskwa hinausging, die er sich als breites, vermutlich von Brücken überspanntes Band vorstellte. Aber er konnte nicht das Geringste erkennen. Die Finsternis vor ihm war undurchdringlich.
Was aber wäre, wenn sich die Öffnung unter Wasser befand und über Wasser nichts war außer einer steilen Ufermauer?
Was, wenn beide Flussläufe durch einen Gitterrost getrennt waren? Was, wenn er nicht hindurchkam und gezwungen war umzukehren, um zu versuchen, an seinem Verfolger vorbeizuschlüpfen? Dem Mann, der den Befehl hatte, ihn umzubringen. Die Gedanken wirbelten wie ein Tornado in seinem Kopf herum, ohne irgendwo Halt zu finden. Es war, als würden sie ungebremst aufeinanderprallen und dabei Schockwellen durch sein Gehirn jagen.
Er musste sich zusammenreißen. Er musste sich konzentrieren, wenn er überleben wollte.
Etwas berührte sein Gesicht. Er zuckte zusammen, schrie vor Panik fast auf, schaffte es jedoch gerade noch, den Laut zu unterdrücken, indem er sich fest in den Handrücken biss. Was auch immer ihn da eben berührt hatte, war schleimig und kalt gewesen. Er fuchtelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Etwas Nasses ringelte sich um sein Handgelenk, und erleichtert erkannte er, dass es nur eine dieser moosigen Wedel von vorhin war, die von der Decke hingen. Er zog die Hand weg und das Ding löste sich mit einem saugenden Geräusch aus dem Mauerwerk.
Als er weiterging, merkte Sherlock, dass er jegliches Gefühl in seinen Zehen verloren hatte.
Hinter ihm vernahm er das unablässige
Platsch … Platsch … Platsch
und den schweren, rasselnden Atem seines Verfolgers. Doch als er über die Schulter zurückblickte, war nichts als Finsternis zu erkennen. Jede Sekunde konnte sich eine Hand mit eisernem Griff auf seine Schulter legen, ihn nach hinten zerren und auf den Boden der Neglinnaja drücken, wo er in absoluter Schwärze elendig ertrinken würde, ohne dass man jemals seine Leiche fand.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er zögerte. Vielleicht konnte er ja einfach doch ans Ufer klettern und warten, bis sein Verfolger vorbeigegangen war. Um nicht gesehen zu werden, wich er, kurz bevor er unter dem nächsten Kanaldeckel vorbeikam, wieder zur Seite aus und steuerte auf die Stelle zu, an der sich das Flussufer erhob. Er langte empor, packte ein Büschel bleichen Grases und wollte sich daran hochzuziehen.
Da trat etwas aus den Schatten hervor und knurrte ihn an.
Es bewegte sich auf vier kurzen Beinen, und sein Kopf wies eine dreieckige Form auf – mit einer spitzen Schnauze und einem Schädel, der, sich nach hinten wölbend, in zwei riesigen Ohren zu enden schien. Die winzig kleinen, schwarzen Augen waren als solche kaum zu bezeichnen. Das weit aufgerissene Maul schien über und über mit Zähnen bestückt zu sein, die wie spitze Glasscherben aussahen. Das braunschwarze Fell, das die Kreatur bedeckte, war verfilzt und fleckig.
Hinter dem Tier rückten drei weitere, ähnliche Kreaturen heran. Sherlock erkannte, dass er es mit Hunden zu tun hatte. Allerdings waren sie völlig anders als alle Hunde, die er bisher gesehen hatte. Ihm wurde klar, dass sie hier unten lebten. In der Dunkelheit, Generation für Generation, Nachkommen von Streunern, die einst den Weg in den eingekerkerten Fluss hinunter gefunden hatten und von Ratten und vielleicht auch Fisch lebten. Ohne optische Reize im Dunkeln hatten ihre Augen ihre Funktion eingebüßt und sich geschlossen. Doch ihre Ohren waren dafür umso größer geworden. Sherlock vermutete, dass das Gehör mittlerweile zum wichtigsten Sinnesorgan für sie geworden war.
Einen Moment lang schweiften seine Gedanken wieder zurück zu den Tunneln unterhalb von Waterloo Station, zu den wilden Kindern. Eine Woge des Mitgefühls überkam ihn. Etwas, das er vor lauter Angst beinahe nicht hatte empfinden können, als er damals versucht hatte, ihnen zu entkommen. Von den Umständen waren sie gezwungen worden, wie wilde Tiere zu leben. Die Hunde hier in Moskau hatten wenigstens ihre Krallen und Zähne zum Überleben. Doch abgesehen von ihrer Intelligenz, hatten die Kinder nichts, und Sherlock hatte den Eindruck, dass den meisten selbst dieses Wenige da unten nicht lange blieb.
Die Nase des Leithundes kräuselte sich. Er sah aus, als versuchte er Witterung aufzunehmen. Aber durch den Gestank von Verwesung, der aus dem Fluss wie giftiges Gas aufstieg, schien
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