Young Sherlock Holmes 3
auch immer der Grund dafür war, es bedeutete, dass sich Sherlock ein Fluchtweg bot. Alles, was er zu tun hatte, war, auf dieser Linie entlang zu balancieren wie ein Artist auf einem Drahtseil.
Eine gute halbe Stunde lang manövrierte er sich vorsichtig voran. Dreimal wäre er dabei fast in die Fluten der Moskwa gestürzt, die neben ihm dahinfloss. Kalt und klatschnass hatte er sich auf den Weg gemacht, aber nach relativ kurzer Zeit waren seine Sachen steif gefroren und trocken. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob das nun am Wind lag, der zwischen den Ufermauern wie durch einen Kamin hindurchfegte, oder daran, dass das Wasser, das seine Kleidung durchtränkt hatte, schlicht und einfach zu Eis gefroren war.
Endlich stieß er auf eine weitere rostige Eisenleiter, die wieder nach oben führte. Er kletterte hinauf und konnte sein Glück kaum fassen, als sein Blick auf eine Pfanne mit glühenden Kohlen fiel, über der ein Einheimischer ein paar Meter von ihm entfernt Kastanien über der Glut röstete. Für ein paar Kopeken gestattete ihm der Mann, sich neben der Pfanne aufzuwärmen.
Nach einer halben Stunde und zwei Tüten gerösteter Kastanien fühlte Sherlock sich wieder kräftig genug, um ins Hotel zurückzukehren. Er war ziemlich sicher, das jetzt gefahrlos wagen zu können. Denn am Ufer war niemand auf der Suche nach ihm aufgetaucht; und soweit er es beurteilen konnte, hatten ihn die Verbrecher ebenso wie in London rein zufällig entdeckt. Er winkte dem Händler dankend zu und machte sich auf den Weg. Seine Beine schmerzten, Kopfschmerz plagte ihn und seine Kleidung fühlte sich irgendwie steifer als zuvor an. Aber zumindest war sie trocken und ihm war relativ warm.
Für den Rückweg brauchte er nur zwanzig Minuten, doch als die Eingangstüren des Slawjanski Bazar Hotels in Sichtweite kamen, schwitzte er vor Anstrengung. Er blieb stehen. Innerhalb weniger Augenblicke ließ der kalte Moskauer Wind den Schweiß auf seiner Stirn zu Eis gefrieren.
Vor dem Hotel schien es irgendeine Auseinandersetzung zu geben. Eine von schwarzen Pferden gezogene Kutsche ohne besondere Merkmale oder Wappen war vor den Eingang vorgefahren. Statt an den Seiten waren die Türen bei diesem Gefährt hinten angebracht. Der Kutscher trug unscheinbare graue Kleidung und eine Pelzmütze – ebenso wie die beiden Männer, die gerade aus dem Hotel herauskamen und auf die Kutsche zusteuerten. Der einzige Unterschied zum Kutscher bestand darin, dass die beiden einen dritten Mann mit sich zerrten. Dieser trug einen gut geschnittenen schwarzen Anzug samt Weste.
Es war Mycroft.
Er protestierte laut und widersetzte sich. Doch Sherlock konnte nicht verstehen, was er sagte.
Der Kutscher stieg von seinem Kutschbock herab und half den Männern, Mycroft hinten in die Kutsche zu bugsieren. Die beiden kletterten zusammen mit Mycroft hinein und schlossen die Tür. Dann sah es aus, als würde der Kutscher einen Riegel vorschieben und die Tür von außen schließen.
Er kletterte auf den Kutschbock zurück und ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen. Sie trotteten los, und die Kutsche entfernte sich.
Sherlock spürte, wie ihn schlagartig der Mut verließ. Alles, was er in den letzten Stunden und den vergangenen Wochen durchgemacht hatte – es hatte ihn geradewegs in diese Situation geführt: einsam gestrandet auf den Straßen einer fremden Stadt und sein Bruder entführt von der Geheimpolizei. Sherlock versuchte, in dem wirren Knäuel seiner Gedanken irgendein Fadenende zu finden, das ihn zu so etwas wie einem Plan führen mochte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, der sich zu einer konkreten Vorstellung aufpäppeln ließe, wie man Mycroft befreien konnte. Aber da war nichts. Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.
14
»Schau nicht hin, wenn dir dein Leben und deine Freiheit lieb sind!«
Sherlock blickte sich um. Ein Mann stand neben ihm. Er hatte seine Pelzmütze tief in die Augen geschoben und den Kragen seines abgetragenen Mantels so hochgeschlagen, dass der Mund verdeckt war.
»Warum nicht?«
»Weil die Dritte Abteilung unsichtbar ist. Sie kommen und holen die Leute, ohne dass es jemand sieht. Und niemand sieht es, weil niemand hinschaut.«
»Was werden sie mit ihm machen?«
»Schnell exekutieren, wenn er Glück hat«, erwiderte der Mann. »Hat er’s nicht, erwartet ihn die Knute.«
»Was sind das für Leute?«, fragte Sherlock entsetzt.
Der Mann schauderte. »Sie sind wie die Pest, nur schlimmer. Viel
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