Young Sherlock Holmes 4
sich zu setzen. Aber das wäre rüde gewesen. Es war schließlich
ihr
Haus und
ihr
Speisezimmer, und er wollte nicht für arrogant gehalten werden.
Bevor Sherrinford antworten konnte, betrat Mrs Eglantine den Raum. Zwei Dienstmädchen folgten ihr. Eines trug einen Teller mit Sandwiches, das andere ein Tablett mit vier Gläsern und einem Krug. Sie stellten die Sachen auf dem Tisch ab.
»Bitte«, sagte Sherlock an Mrs Eglantine gewandt, als die Mädchen gingen, »bleiben Sie einen Moment. Das hier geht Sie ebenso etwas an wie meine Tante und meinen Onkel.«
Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Doch dann schloss sie ihn wieder. Sie schien gereizt zu sein, aber irgendwie auch unsicher, vielleicht sogar ängstlich.
»Du hast mich noch gar nicht deinem Freund vorgestellt«, sagte Sherrinford. Er zog für seine Frau einen Stuhl am Tisch hervor. Sie setzte sich, und er tat es ihr nach.
»Das hier ist Matthew Arnatt«, erwiderte Sherlock. »Er lebt in Farnham.«
»Ein Vagabund«, schaltete Mrs Eglantine sich ein. »Ein Nichtsnutz.«
»Ich hab’ Ihnen schon mal gesagt …«, begann Matty hinter Sherlock stehend, »dass ich kein …«
»Lass gut sein, Matthew«, unterbrach Sherrinford Holmes ihn und klopfte einmal kurz auf den Tisch. »Du bist nach einem der Jünger Jesu benannt, der zugleich Autor eines unserer vier Evangelien ist. Du bist in meinem Haus willkommen, Matthew.«
»Danke«, sagte Matty.
»Hast du Hunger?«, fragte Sherlocks Tante. »Vielleicht möchtest du ja ein Sandwich und ein Glas Limonade.«
»Also, von mir aus gerne«, sagte der Junge und langte über Sherlocks Schulter hinweg nach ein paar Sandwiches.
»Also«, begann Sherrinford Holmes. »Was ist so wichtig, dass du eine Familienkonferenz anberaumt hast? Und was hat das mit dem Mann zu tun, den du erwähnt hast – einem Mann, dessen Namen ich nicht über die Lippen bringe.«
Sherlock holte tief Luft. »Josh Harkness ist ein Erpresser«, sagte er. »Er sammelt Informationen über Leute – Informationen, die sie lieber nicht an die Öffentlichkeit dringen lassen wollen –, und er droht, diese publik zu machen, wenn sie ihm nicht regelmäßig Geld zahlen.«
»Willst du damit etwa andeuten«, erwiderte Sherrinford mit drohendem Unterton in seiner ruhigen Stimme, »dass dieser Kriminelle in irgendeiner Weise hinter ein Geheimnis gekommen ist, das diese Familie betrifft? Ich bin ein angesehener Bibelgelehrter, und meine Frau ist eine Stütze der hiesigen Gesellschaft. Was für ein Geheimnis könnten wir schon haben, das geeignet wäre, die Aufmerksamkeit eines Kriminellen solchen Kalibers zu erregen?«
Sherlock schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle, was er entdeckt oder nicht entdeckt haben könnte. Das Entscheidende ist, dass all seine Akten – seine gesamte Dokumenten- und Briefsammlung – vernichtet worden sind.«
Mrs Eglantine sog hörbar die Luft ein und schlug sich die Hand vor den Mund.
»Bist du sicher?«, fragte Sherrinford Holmes und beugte sich vor. »
Aber die Zunge kann kein Mensch zähmen, das unruhige Übel, voll tödlichen Giftes.
Jakobus, Kapitel drei, Vers acht.«
»Abfolut ficher«, schaltete sich Matty ein, den Mund voll mit Sandwich. »Fir ham ef fufammen gemacht.«
»Du hast es gesehen, Sherlock?«, fragte Sherrinford. »Mit eigenen Augen?«
»Hab’ ich. Die Inhalte sämtlicher Kartons sind bis zur Unkenntlichkeit zerstört.«
Sherrinford Holmes lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der rechten Hand über die Augenbraue, während er mit der linken den Arm von Sherlocks Tante tätschelte. »Dann ist der Albtraum … endlich vorüber«, stieß er mit einem tiefen Seufzer aus.
Etwa eine Minute lang senkte sich Stille über den Raum. Es war nicht das geringste Geräusch zu hören, nicht die kleinste Bewegung, aber etwas hatte sich verändert. Es war, als hätte sich eine dunkle Wolke verzogen, die bis dahin die Sonne bedeckt hatte, und im Raum schien es heller und wärmer zu sein als zuvor.
»Du hast dieser und vielen anderen Familien einen großen Dienst erwiesen«, sagte Sherrinford Holmes. »Ich erkenne dieselben Charakterzüge in dir wie in deinem Bruder – und auch deinem Vater,
meinem
Bruder. Ich stehe in deiner Schuld.« Er wandte sich zu Mrs Eglantine. »Und Ihnen bin ich nun nicht mehr länger hörig, Sie böse Frau. Wonach auch immer Sie in diesem Haus auf der Suche sind, Sie werden es niemals finden. Packen Sie Ihre Sachen. Wenn Sie nicht binnen einer
Weitere Kostenlose Bücher