Young Sherlock Holmes 4
zu sehen bekäme, streckte er die Hand aus und zog vorsichtig den Sack vom Kopf seines Freundes. Mattys blau-graue Augen starrten verwundert zu ihm empor.
»Du bist ja in Ordnung«, flüsterte Sherlock.
»Ich bin immer in Ordnung«, erwiderte Matty.
»Aber… ich dachte … du hast dich nicht bewegt, und deshalb …«
Matty lächelte. »Ich hab’ gelernt, dass man sich in solchen Situationen am besten wie ein Igel verhält – einrollen und warten, bis alles vorbei ist. Klappt das nicht, geht man zur Dachs-Taktik über – angreifen, spucken, beißen und kratzen, was das Zeug hält.«
Sherlock zog Matty auf die Beine, und zusammen befreiten sie anschließend Rufus Stone von seinen Fesseln. Sherlock machte sich Sorgen wegen der großen Menge Blut, die sich über Rufus’ Gesicht, Hemd und Hände ausgebreitet hatte. Aber der Violinist tat es achselzuckend ab. »Hab’ mir bei Stürzen vom Dach schon schlimmere Kratzer zugezogen«, sagte er. »Allerdings werde ich für eine Weile wohl keine Pizzicato-Noten mehr spielen können. Was ist eigentlich mit den beiden Schlägertypen? Nicht, dass die gleich wieder aufkreuzen!«
Vorsichtig näherte sich Sherlock dem Loch im Holzboden – im Bewusstsein, dass der Rest der Decke ebenfalls jeden Augenblick nachgeben könnte – und spähte in den Raum darunter hinab. Die beiden Männer lagen immer noch in sich zusammengesunken in dem Loch, das ihre Körper beim Aufprall in den Boden geschlagen hatten. Sie stöhnten, sahen aber nicht so aus, als wären sie in nächster Zeit zu großartigen Taten fähig. »Ich kann sie sehen«, antwortete er. »Aber ich glaube nicht, dass wir uns wegen denen den Kopf zerbrechen müssen. Jedenfalls erst mal nicht.«
»Sehr schön. Ach, Sherlock, meine Bewunderung für dich kennt keine Grenzen.«
»Was ist passiert?«, fragte Sherlock. »Wir haben Sie in Newcastle verloren.«
Rufus verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Die waren schon seit Farnham hinter uns her«, sagte er. »Demnach, was ich aufgeschnappt habe, fanden sie Amyus Crowes Cottage verlassen vor. Daraufhin haben sie jemanden dagelassen, um es im Auge zu behalten, falls Crowe zurückkommt. Es war der Kerl mit dem Pferdeschwanz und diesem abgekauten Ohr.«
Sherlock runzelte die Stirn. »Ich hab’ ihn nicht gesehen. Dabei haben wir das ganze Haus durchsucht.«
»Er hat sich irgendwo draußen versteckt. Er hat ein Loch in die Hauswand gemacht. Dadurch hat er dann eine Sprechrohrverbindung gezogen, die vom Haus durch den Garten bis in sein Versteck lief. Er konnte alles hören, was ihr gesagt habt.«
»Eine Sprechrohrverbindung?«, fragte Matty verwirrt.
»Ist so ähnlich wie das Ding, mit dem ein Schiffskapitän mit dem Maschinenraum spricht: ein gerippter, mit Wachs überzogener Leinwandschlauch. Sprichst du in das eine Ende hinein, kann dich derjenige am anderen Ende über Hunderte von Metern deutlich hören, wenn er sein Ohr an die Öffnung hält.«
»Wer hätte das gedacht?«, brummte Matty. Sherlock jedoch hätte sich am liebsten einen Tritt in den Hintern verpasst. Genau so ein Schlauch hatte von Amyus Crowes Haus fortgeführt, aber er hatte sich zu dem Zeitpunkt nichts dabei gedacht. Auf der Stelle schwor er sich, nie wieder etwas außer Acht zu lassen, das irgendwie fehl am Platz schien oder ungewöhnlich wirkte.
»Er hat euch im Haus belauscht«, fuhr Rufus fort. »Dann ist er euch nachgeschlichen und hat gehört, wie ihr auf der Koppel über Edinburgh gesprochen habt.« Er schüttelte den Kopf. »Sobald er seine Kumpane benachrichtigt hatte, mussten sie uns nur noch auf unserer Fahrt nach King’s Cross und später dann im Zug im Auge behalten. Sie beschlossen, sich einen von uns in Newcastle zu schnappen, um rauszukriegen, wo genau sich Amyus Crowe in Edinburgh versteckt hält – für den Fall, dass du richtig lagst und Crowe sich auch tatsächlich in Edinburgh aufhalten würde.« Betrübt blickte er auf seine blutverkrusteten Hände. »Wie sie feststellten, wusste ich nicht mehr, als dass er irgendwo in der Stadt war. Also haben sie mich erst mal außer Gefecht gesetzt und mitgenommen, für den Fall, dass sie mich noch irgendwie gegen euch verwenden könnten. Wir waren im selben Zug wie ihr. Aber der Mann, der das Sagen hatte – der, der dir die Fragen gestellt hat –, hatte ein ganzes Abteil reserviert, so dass sie vollkommen ungestört waren. Und hier in Edinburgh sind sie dann erst ausgestiegen, als der Bahnsteig völlig leer war. Anschließend
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